Wikipedia sieht sich dieser Tage schweren Vorwürfen ausgesetzt. Eine FAS-Recherche hat mangelnde Aktualität und ein nicht unerhebliches Fehlervorkommen offenbart: "Mindestens jeder dritte Artikel hat ein Problem." Kann sein, dass ich die Online-Enzyklopädie fortan mit einer etwas großzügiger bemessenen Prise Salz konsultiere, dessen ungeachtet möchte ich betonen, dass ich immer wieder auf Artikel stoße, die sich durch beispiellose Informationsdichte bei gleichzeitig hohem Unterhaltungswert auszeichnen.
Völlig zu Recht wurde der Eintrag "Sumer is icumen in" 2010 in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen: eine launig-abenteuerliche musik-, literatur- und sprachwissenschaftliche Lesereise! Wie bin ich überhaupt darauf gestoßen? Ich las neulich an anderer Stelle, dass es sich bei diesem auch Sommerkanon genannten mittelenglischen Lied, das mir erstmals in dem Folk-Horror-Kultfilm "The Wicker Man" (1973) begegnet war, um den ältesten überlieferten Kanon der europäischen Geschichte handelt. Angegeben war in jener Quelle sowohl die neuenglische Übertragung des Titels / der ersten Zeile als "Summer is a-coming" als auch die deutsche Übersetzung "Der Sommer ist gekommen". Das wunderte mich nun, war ich doch davon ausgegangen, dass a-coming eine Verlaufsform ist (vgl. Bob Dylan: "The times, they are a-changing"). Der Wikipedia-Artikel klärt diese Diskrepanz in Hinblick auf die Uneindeutigkeit der behandelten Jahreszeit auf:
Der mittelenglische Text des Sommerkanons wurde im Lauf der Jahrhunderte immer wieder an den Sprachwandel angepasst. Den meisten modernen Bearbeitungen ist gemeinsam, dass sie die erste Textzeile mit dem leicht archaisierenden, aber nichtsdestoweniger unmittelbar verständlichen „Summer is a-coming in“ wiedergeben. In dieser Form ist der Kanon insbesondere unter musikalischen Laien sehr bekannt. Problematisch ist hierbei, dass das mittelenglische sumer eine beträchtliche Bedeutungsverschiebung durchgemacht haben müsste, wenn der Text – der heutigen Auffassung entsprechend – als „Frühlingslied“ begriffen wird. Zur Entkräftung dieser Inkonsistenz wird vorgebracht, dass im Mittelalter der 1. Mai als Tag des Sommeranfangs angesetzt wurde, ein Datum, das nach gegenwärtiger Vorstellung noch in den mittel- und westeuropäischen Frühling fällt. Ferner verfälscht „a-coming“ als Verlaufsform den Sinn des mittelenglischen Partizips icumen („gekommen“).
Es ist lohnend und erheiternd, einen Blick auf den vollständigen Text des sechsstimmigen Stücks zu werfen:
Sumer is icumen in,
Lhude sing cuccu!
Groweþ sed and bloweþ med
And springþ þe wde nu,
Sing cuccu!
Awe bleteþ after lomb,
Lhouþ after calue cu.
Bulluc sterteþ, bucke uerteþ,
Murie sing cuccu!
Cuccu, cuccu, wel singes þu cuccu;
Ne swik þu nauer nu.
Der Sommer ist gekommen
Kuckuck, singe laut!
Es wächst die Saat, die Wiese grünt
Und das Gehölz schlägt aus,
Singe, Kuckuck!
Die Aue [das Mutterschaf] blökt nach dem Lamm,
Die Kuh muht nach dem Kalb.
Der Ochse rührt sich, der Bock furzt
Singe froh, Kuckuck!
Kuckuck, Kuckuck, wie schön singst Du, Kuckuck.
Nun schweige niemals mehr.
Auch zu dem auffälligsten Satz darin hat Wikipedia etwas zu sagen:
Besonders umstritten ist bis heute die Deutung des Teilsatzes bucke uerteþ. Dabei ist nicht nur unklar, von welchem Tier bei bucke genau die Rede ist – neben dem naheliegenden Ziegenbock werden auch Rehbock oder Hirsch vorgeschlagen. Ausgesprochen kontrovers wird vielmehr die Bedeutung des Verbs uerteþ diskutiert, da die vermeintliche idyllische Schilderung der im Frühling wiederauflebenden Natur inhaltlich wie stilistisch nur schwer vereinbar scheint mit der Flatulenz eines Paarhufer-Männchens. Während manche Interpretationen folgern, farteth sei im Mittelenglischen weniger derb konnotiert gewesen als das moderne englische farts beziehungsweise das verwandte deutsche furzt, bestreiten andere überhaupt einen Zusammenhang mit dem aus dem Altenglischen belegten feortan und postulieren eine Umdeutung des lateinischen Verbs vertere (im Sinne von „sich [unruhig] hin- und herbewegen“), so dass die problematische Vokabel letztlich nur ein Synonym des vorangegangenen sterteþ sei.
So ernüchternd letztgenannte Deutung auch sein mag, neige ich doch dazu, mich ihr anzuschließen, gerade eingedenk der Verwandtschaft von vertere mit wirbeln und werben i.S.v. "balzen" – das passt doch zu einem ausgelassenen Böckchen im Frühling!
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