Dienstag, 29. November 2022

Videospieltipp: "Life Is Strange"-Double Feature

Es ergab sich, dass ich über mehrere Monate hinweg "Life Is Strange 2" und "Life Is Strange: True Colors" parallel gespielt habe. Es liegt also nahe, beide in einem Abwasch zu bewerten, wobei mir kein direkter "Vergleichstest" zweier miteinander konkurrierender Games vorschwebt. Mir schwebt, ehrlich gesagt, noch gar nichts vor. Mal sehen, was passiert, wenn ich meine ungeordneten Gedanken niederschreibe.

"Life Is Strange 2" (im Folgenden: LIS2) erschien in fünf Episoden von 2018 bis 2019, "Life Is Strange: True Colors" (TC) kam als Gesamtpaket 2021 heraus und stellt das bis dato letzte installment der Life-Is-Strange-Reihe dar, sieht man von der heuer veröffentlichen "Remastered Collection" ab. Für LIS2 habe ich circa 17 Stunden gebraucht, für TC rund 15 Stunden, jedoch über einen deutlich kürzeren Zeitraum als für Ersteres. Diese Tatsache könnte den Verdacht erhärten, dass ich von TC mehr gefesselt war, aber so einfach ist es nicht. Vermutlich lag es daran, dass man sich für die Story vom bewährten Episoden-Prinzip verabschiedet hat. So geht sie "wie in einem Rutsch" von der Hand, man wird leichter mitgerissen. Bei LIS2 werden klare Zäsuren gesetzt, jedes Episodenende geht mit einem Cliffhanger einher, zudem sind die Entscheidungen härter, schwieriger und folgenreicher. Bei TC wird man zwar auch oft genug vor die Wahl gestellt, und auch da sind je nach Entscheidung verschiedene Spiel-Ausgänge möglich, bei LIS2 aber braucht man öfter mal eine Verschnauf- oder Verdauungspause. Ich glaube, bei LIS2 sind insgesamt fünf unterschiedliche Enden möglich, und jedes davon hat den gewissen "Uff!"-Faktor. Da ist das Schicksal unserer Hauptfigur in TC "banaler". Damit möchte ich die sich entspinnenden Geschehnisse und das Drumherum nicht trivialisieren: TC hat auch jede Menge Substanz, Drama und Spannung zu bieten, Abgründe tun sich auf, Verbrechen kommen ans Licht.

Nun, worum geht es überhaupt? Dazu möchte ich nichts verraten. Glaubt mir: Sich blind hineinzustürzen, mehrt das Vergnügen. Es sei nur festgehalten, dass sich die zwei Spiele schon im erzählerischen Genre voneinander unterscheiden: LIS2 ist ein Roadmovie, TC ist ein Krimi. Bei ersterem gibt es wesensgemäß mehrere Ortswechsel, man kommt von Washington State über Oregon und Kalifornien nach Nevada und Arizona, während sich die Handlung von TC streng auf einen Ort konzentriert. Und diese Ortschaft ist einer der dicksten Pluspunkte des Spiels, sein heimlicher Star sozusagen: Das fiktive Haven Springs, Colorado, ist ein stadtgestalterischer Wunschtraum, ein Idealkaff, ein schillerndes, gelecktes Shangri-La für erdverwachsene Hipster, die von einem besseren Amerika träumen. (Unnötig zu sagen, dass es unter der bunten Oberfläche brodelt und das Aufdecken eines düsteren Geheimnisses unsere Hauptaufgabe ist.) Auf dem großen Fernsehbildschirm wirkt dieses Anti-South-Park, dieses Miniatur-Portland natürlich besonders grandios:



LIS2, das ich auf dem Notebook gespielt habe, kommt ein wenig rauer, staubiger, trostloser rüber, wobei ausgesuchte Wüstenlandschaften und Nationalparkrouten freilich auch ihren eigenen Charme haben. Überhaupt habe ich in Sachen Graphik so wenig zu beanstanden wie an der musikalischen Untermalung, auch die Mimik und die Animation der Figuren taugen mir und wirken an keiner Stelle der Glaubwürdigkeit entgegen. Die wie immer famos geschriebenen Dialoge und das Verhalten der Akteure festigen einmal mehr den exzellen Ruf des "Life Is Strange"-Franchise', die Nase weit vorn zu haben, wenn es um Charakterdesign geht. Beide Abenteuer – LIS2 wurde von Don't Nod, TC von Deck Nine entwickelt – zeichnen sich durch ein hohes Maß an Authentizität und menschliche Glaubwürdigkeit aus. Wer aber sind diesmal die Akteure? Die Protagonistin von TC heißt Alex, ist Anfang 20 und kehrt nach vielen Jahren im foster care system in ihre Heimatstadt Haven Springs zurück, wo sich ihr Bruder inzwischen so etwas wie eine Familie aufgebaut hat. LIS2 dreht sich um die Diaz-Brüder, 16 und 9, die bei ihrem Vater, einem mexikanischen Einwanderer, leben (die Mutter hat sich vor langer Zeit davon gemacht), bis sie ein drastisches Vorkommnis zur Flucht zwingt.

(Screenshot von Userin "Babsi" auf Steam)

Die meiste Zeit steuern wir zwar den älteren, Sean, über die besondere Fähigkeit, die mehr als einmal gameplay- und plotrelevant ist, verfügt indes nur unser kleiner Bruder Daniel. Ganz genau, übernatürliche Kräfte spielen in beiden Adventures wieder eine essentielle Rolle: In Daniels Fall kommt sie handfester und urwüchsiger daher (Telekinese), bei "True Colors" ist sie subtiler und für andere nicht wahnehmbar (Alex kann Gedanken lesen und Emotionen von Menschen in der Nähe synästhetisch wahrnehmen). Hier wie da haben die Fähigkeiten nicht nur Vorteile und bringen ihre\n Träger/in regelmäßig in Dilemmata und mittelschwere innere Konflikte. Ich persönlich konnte mich sowohl in Sean als auch in Alex einwandfrei hineinversetzen und ihren inneren wie äußeren Reisen, Kämpfen und Metamorphosen mit Freude (und, wenn es sein musste, mit Traurigkeit) wie selbstverständlich folgen.

Fazit: Sowohl "Life Is Strange 2" als auch "Life Is Strange: True Colors" halten die Tugenden des bahnbrechenden Originals hoch. Wendungsreiche Storylines mit unüberwindbar scheinenden Hürden und klug platzierten emotionalen Magenschlägen werden durch stark gezeichnete tragische Held(inn)enfiguren ergänzt. Wäre mir nach Mäkeln zumute, würde ich die oft läppischen Sammelaufgaben und belanglosen Rätseleinlagen ansprechen, aber ich verkneife mir ja auch die unnütze Bemerkung, dass an "Life Is Strange 1" (bei allen Schwächen, die auch diesem eigneten) ohnehin nichts ranzukommen in der Lage ist.

PS: Zu beiden Games ist je ein kürzeres Add-on erschienen. Gespielt habe ich nur das zu LIS2, "The Awesome Adventures of Captain Spirit", das ebenfalls traurig-schön geraten ist.

Sonntag, 27. November 2022

Die neuen Vorsätze sind da

Ein historischer Tag für Fans von großen und kleinen Zahlen war der 18. November dieses Jahres. Da wurden nämlich im Rahmen der 27. Generalkonferenz für Gewichte und Maßeinheiten im Schloss von Versailles vier neue SI-Präfixe eingeführt: zwei Vorsilben für sehr hohe und zwei für sehr winzige metrische Maßangaben. Bisher stellte das Präfix Yotta- das benennbare Maximum dar, eine 1 gefolgt von 24 Nullen. Ein Yottabyte sind 1024 Bytes, nein, schlechtes Beispiel, bei Bytes rechnet man ja in 1024er-Schritten ... Anderer Bereich: 1 Yottagramm sind 1024 Gramm. "So ein abstrakter Theoriequatsch!", mag man nun einwerfen. "Was bitte schön bringt denn eine Quadrillion Gramm auf die Waage?" Tja, man halte sich fest: Unsere Erde wiegt nach aktuellen Erkenntnissen sechs Ronnagramm (6 Rg)!

Ronna- repräsentiert ab sofort schwindelerregende 27 Nachkommastellen. Damit ist der Gipfel aber noch nicht erreicht, denn hinzugekommen ist auch Quetta- für 10^30. Die Ausweitung der, ich nenn's mal: Nomenklatur ergab sich aus wachsenden Bezifferungs-Anforderungen in der Data Science ("because data science is requiring these really big quantities of data to be described", wie es ein Sprecher ausdrückte). Die neuen Vorsilben seien zukunftssicher, mindestens für die nächsten 25 Jahre. Die letzte entsprechende Anpassung lag über 30 Jahre zurück. Inoffiziell waren, ausschließlich in der Computerwissenschaft, bereits die Präfixe Bronto- und Hella- verwendet worden. Gegen diese hat das Gremium vor allem deswegen votiert, weil die Buchstaben b und h bereits in Gebrauch sind, h für Hekto-, b (selten) für Bit.

Wie man am Beispiel der Erdenmasse sieht, finden die Extrem-Maßangaben auch außerhalb von Informatik & Co. ihre Anwendung. Über den Planeten Jupiter lässt sich jetzt sagen, dass er rund zwei Quettagramm wiegt, 2 Qg. Und am enderen Ende des Spektrums? Da haben wir r für Ronto- (10-27) und q für Quekto- (10-30). Ein Rontogramm ist beispielsweise die Masse eines Elektrons. Und ein Bit Information auf einem Smartphone lässt dieses um ein Quektogramm schwerer werden (Quelle: Guardian).

Da man sich stets aus dem Vorrat von Buchstaben bedienen muss, die "noch übrig sind", sind die Bildungen dieser Wortteile mitunter wild. Bei Quetta- etwa hat man irgendwie das griechische deka mit dem lateinischen decem ("zehn") vermischt und das noch freie Q- vorangestellt, wobei angeblich zwischenzeitlich die Variante Quecca- im Raum stand, die man jedoch für zu schwer aussprechbar hielt. Ähnlich wurde auch bei Ronna-, Ronto- und Quekto- (engl./frz. Quecto-) verfahren: Griechisches und lateinisches Zahlwort, zerpflückt und neu arrangiert, plus noch nicht in Gebrauch befindlicher Anfangsbuchstabe.

Freitag, 25. November 2022

Meine zehn zuletzt gesehenen Filme

X
Drehbuchautor und Regisseur Ti West hat sich mit Arbeiten an Gruselserien wie "Them" und "The Exorcist" sowie mit einigen durchaus namhaften Horrorstreifen erste Sporen verdient, heuer hat er mit "X" einen größeren Achtungserfolg vorgelegt. Tatsächlich steht ein Prequel namens "Pearl", in dem Hauptdarstellerin Mia Goth auch wieder mit von der Partie ist, bereits in den Startlöchern.
Die Prämisse liest sich altbacken, wirkt anno 2022 aber paradoxerweise schon wieder frisch: Im Jahr 1979 begibt sich eine bunte Truppe prototypischer potentieller Meuchelopfer in die texanische Einöde, um "einen Film für Erwachsene zu drehen", wie es in der gewohnt blöden deutschen Übersetzung der imdb-Inhaltsangabe heißt. Den Look & Feel kriegt West anständig hin, man erahnt, wie dieses Ausgangsszenario in den Achtzigerjahren durchgespielt worden wäre. Mir ist allerdings nicht so recht klar, was der Film eigentlich (sein) will: Er kennt die gängigen Backwoods-Slasher- und Sexploitation-Tropen, treibt diese aber weder auf die Spitze noch subvertet er sie. Klar, hin und wieder werden Systemfragen gestellt, und die Protagonisten haben allesamt erkennbare Ziele und Motivationen, was ich einem Script hoch anrechne und was in diesem Genre weiß Gott nicht selbstverständlich ist. Seine Versprechen von Substanz und Cleverness kann "X" aber nicht einlösen, der Großteil ist zu viel vom Altvertrauten, da wäre deutlich mehr drin gewesen. "American Horror Story: 1984" ist die zu bevorzugende Alternative.
Bonuspunkt für den Drehort Neuseeland.

The Suicide Squad
Allen Kritiken, die mir vorab voller Begeisterung versichert hatten, dass "The Suicide Squad" den Vorgänger nicht nur übertrifft (was keine Schwierigkeit darstellte), sondern sogar vergessen macht, habe ich bereitwillig geglaubt. Auf James Gunns "Guardians of the Galaxy"-geschultes Händchen für Ragtag Bunch of Misfits-Sagas einerseits, seinen kompromisslosen, bereits in dem rotzigen Vigilanten-Drama "Super" (2010) greifbaren Oh-so-wrong-Humor andererseits konnte ich mich verlassen, da war ich mir sicher.
To be fair: Keine Sekunde Langeweile hatte ich auch schon "Suicide Squad" (ohne "The") beschieden, hier ist es aber eine Suppe aus den Hauptzutaten Action, Spaß und Intensität, die zwoeinhalb Stunden lang am Köcheln gehalten wird und an der man sich nicht sattessen kann. Die "Deadpool"-Reihe ist für mich zwar nach wie vor der Goldstandard in der Kategorie "Antihelden-Splatter-Gagfeuerwerk", aber dass ich mich bei meiner (mir 2021 selbst auferzwungenen) Wahl zwischen Marvel und DC auf die richtige Seite geschlagen habe, wurde mir hiermit einmal mehr bestätigt.
PS: Ich habe mir die Deleted Scenes angesehen. Die waren auch nicht übel, wurden aber m.M.n. durchweg berechtigterweise herausgeschnitten.

Im Schatten des Zweifels
Von seinen eigenen Werken mochte Alfred Hitchcock laut Überlieferung dieses am liebsten; mein Favorit von Hitch ist es bei weitem nicht. Permanente Bangnis und suburbanes Grauen präsentiert uns der Meister des Suspense zwar in solidem Maße, für mich ist aber an dem Punkt die Luft raus, wo a) die Frage, ob "Onkel Charlie" tatsächlich Onkel Charlie ist, geklärt wird, und b) einzelne Figuren sich erratisch bis tumb verhalten. Ohne zu viel verraten zu wollen: Der Bedrohungslage könnte man sich sehr fix und ohne viel Aufwand entziehen.
Trotzdem lässt sich "Shadow of a Doubt" prima anschauen dafür, dass er fast 80 Jahre auf dem Buckel hat. Die Hauptrollen haben inne: Teresa Wright (letzte Rolle: "Der Regenmacher") und Joseph Cotten. Das Drehbuch schrieb Thornton Wilder (!) gemeinsam mit Sally Benson und Alma Reville.

Alles Geld der Welt
Die spektakuläre Getty-Enkel-Entführung wurde 2018 als Zehnteiler "Trust" für den Sender FX inszeniert, u.a. von Danny Boyle und mit immerhin Hilary Swank und Donald Sutherland. Ich frage mich jedoch wie so oft, warum. Die Story lässt sich in einem abendfüllenden Spielfilm, nämlich diesem aus dem Jahr zuvor, erzählen, ohne gehetzt zu wirken, und ich kann mir nicht vorstellen, wie sie durch das Serienformat an Spannung und Charaktertiefe gewinnen sollte. Ridley Scotts 132-Minuten-Fassung hat mich jedenfalls überzeugt. Ob der öffentlichkeitswirksam nachträglich herauseditierte Kevin Spacey den hartherzigen Ölmilliardär Jean Paul Getty einnehmender interpretiert hätte bzw. hat, vermag ich nicht einzuschätzen. Christopher Plummer hat den unbestreitbaren Vorteil, deutlich älter und verknitterter zu sein, was seiner Figur noch mehr Sturheit und Verbitterung verleiht.

Tremors
In meiner Jugend verging kein Wochenende, an dem nicht "Im Land der Raketenwürmer", so der dann doch liebenswert hirnrissige deutsche Untertitel, im Spätprogramm von RTL 2 oder Kabel 1 lief. Dass ich ihn bis neulich, als er ins Angebot von Amazon Prime aufgenommen wurde, noch nie gesehen hatte, ist ein Wunder. Und was soll ich sagen? Das Creature-Feature von 1990 funktioniert auch nach drei Jahrzehnten hervorragend und hält, was es verspricht. Ich erwartete Trash und bekam einen kurzweiligen Wüsten-Actioner mit vorzeigbaren Props und Effekten, einer Prise Humor und Kevin Bacon.

Verborgene Schönheit (OT: Collateral Beauty)
Haderte ich schon bei "Im Schatten des Zweifels" mit der altbekannten Zwickmühle der suspension of disbelief, machte es mir dieses Drama von 2016 um ein Vielfaches schwerer. Das Manöver, das drei Arbeitskollegen mit Hilfe angeheuerter Laienschauspieler/innen inszenieren, um ihren traumatisierten Freund zurück ins Leben zu holen, ist so gaga – und grenzt obendrein an Gaslighting –, dass mein Hirn im Ringen mit Herz und Seele beinahe die Oberhand gewann.
Will Smith hat mit "Sieben Leben" und "Das Streben nach Glück" zwei zu Tränen rührende Performances für die Ewigkeit vorgelegt. Der Hattrick ist ihm mit "Verborgene Schönheit" nicht gelungen. Nichtsdestotrotz habe ich Smith, um den es zuletzt ruhiger geworden war, ebenso gern zugesehen wie dem übrigen Cast, darunter Edward Norton, Helen Mirren und Keira Knightley.

The Black Phone
Ich muss wirklich bald mal etwas von Joe Hill lesen! Das 2021 erschienene Entführungs-Mystery "The Black Phone", das auf einer seiner Kurzgeschichten basiert, erinnert in mancher Hinsicht und auf gute Weise an Erzählungen seines Vaters Stephen King, in denen Kinder im Mittelpunkt stehen. Der Vergleich mit "Es" drängt sich auf. Während dort Heranwachsende einer übernatürlichen Macht mit ganz realen Mitteln Einhalt gebieten müssen, stammt das, was es hier auf die Kinder abgesehen hat, aus dieser Welt und kann nur mithilfe paranormaler Bedingungen bekämpft werden. Dass die "The Grabber" genannte Schreckgestalt (albtraumhaft: Ethan Hawke) am Ende besiegt wird, sieht man hoffnungsvoll kommen; als (wenn?) es dann passiert, ist's umso befriedigender. Die Nachwuchsdarsteller sind toll, beunruhigend grandios ist auch der lange nicht gesehene Jeremy Davies.

Brian and Charles
Suspension of disbelief zum Dritten: Dass eine von einem sonderbaren Einsiedler und Messie aus Haushaltsgegenständen und Elektroschrott zusammengeschraubte Puppe eine künstliche Intelligenz eingehaucht bekommt, die dem Stand der gegenwärtigen Robotik Dezennien voraus ist, muss man halt hinnehmen. Technische Fragen sind müßig, ich brauche keine Erklärungen, um die Figur des Charles als echt zu akzeptieren; die brauchte ich auch bei "Finch" nicht.
Der britische Komiker David Earl, den ich an anderer Stelle als "Perversen vom Dienst" tituliert habe, darf hier von seiner angestammten Serienpersönlichkeit abrücken und einen liebens- und bemitleidenswerten Sympathieträger mimen. Mit seinem Co-Star Chris Hayward hat Earl auch das Drehbuch verfasst. Eine stille, warme, skurrile Perle.

The Found Footage Phenomenon
Ich kann mich kurzfassen: An "Woodlands Dark and Days Bewitched" kommt diese Horrorfilm-Doku nicht heran. Dafür geht sie auch "nur" eine Stunde und 40 Minuten. Neben den erwartbaren sozio-kulturellen Herleitungstheorien zum Phänomen "Paranormal Activity" & Co. gibt es zumindest zwei Erkenntnisse, 1.) dass das Angebot an Vertretern des Found-Footage-Subgenres längst gesättigt ist (okay, den Verdacht hatte ich schon vorher), und 2.) dass erstaunlich viele Filmschaffende in diesem Bereich sich auf die Fahne schreiben, Vorreiter auf diesem Feld gewesen zu sein (mehrmals getätigte Aussage, paraphrasiert: "Jaaa, was Film XY von 2010 gemacht hat, haben wir ja schon 2004 in YZ gezeigt!").

Don't Worry Darling
Auch hier kann ich mich mit Worten zurückhalten, viel Korrektes wurde über Olivia Wildes zweite Regiearbeit bereits geschrieben. Futurismus trifft auf den geschniegelten Abyss einer planned community, Menschlichkeit und die Definition von Menschsein stehen im Fokus. Dass mich einige Versatzstücke allzu sehr an "The Prisoner" sowie die "Akte X"-Folge "Arcadia" erinnert haben, ist wohl eher meine Schuld. Harry Styles hat kaum genervt, Florence Pugh muss für absolut folgerichtig besetzt halten, wer sie in "Midsommar" brillieren sah (jene Darstellung soll Wilde ja auch dazu bewogen haben, Pugh zu engagieren). Auch die Kameraführung hebt "Don't Worry Darling" über das Niveau von "Black Mirror" und ähnlichem. Einzig manche Traum-/Visions-Sequenzen sind für meinen Geschmack zu aufdringlich geraten.

Mittwoch, 23. November 2022

TITANIC vor zehn Jahren: 12/2012

Huch, ich hatte bis vor zwei Tagen nicht auf dem Schirm gehabt, dass die Dezemberausgabe 2012 bereits am 23.11., also am vorletzten statt wie gewohnt am letzten Freitag des Monats, erschien. Aber klar: Weil die Januarnummer in der Regel vor Weihnachten herauskommt ("zwischen den Jahren" droht sie unterzugehen), wird meist auch der Erstveröffentlichungstag (ET) von Ausgabe 12 um eine Woche vorverlegt. Jedenfalls hatte ich deswegen nicht ausreichend Zeit, das Heft bis ins letzte Detail zu studieren. Für eine Review von gewohnter Länge reicht's aber.


Wie man sieht, befand sich Heizkosten schon vor zehn Jahren als Angstbegriff im deutschen Bewusstsein. Der Titel stammt von mir, was ich bis zum Erhalten meines Belegexemplars gar nicht gewusst hatte, denn er war eigentlich als Aufmacherseite von "55ff" vorgesehen. Ersetzt wurde diese dann durch einen Bildwitz, den ich tatsächlich als Hefttitel vorgeschlagen hatte und der mir inzwischen gar nicht mehr gefällt.

Überhaupt scheint Kreativscham diesmal ein Leitmotiv zu sein. Beispielsweise könnte man den "Apocagypse!" betitelten "Zigeuner-Survival-Guide" (S. 36-39) heute so nicht mehr bringen. Das ridiküle Pamphlet hatte seinerzeit einen in der Gesellschaft relevanten Anlass, enthält genügend Ironiemarker und Fallhöhe, macht sich im Grunde lustig über westliche Ängste, indem es sie überhöht. Trotzdem, fürchte ich, würde diese Form von Satire inzwischen nicht mehr verstanden werden, und man würde mir und meinem Co-Autor – nicht ganz zu Unrecht – vorwerfen, antiziganistische Klischees zu reproduzieren. Ich erinnere mich außerdem daran, dass es später intern Kritik an der unentschiedenen Aufmachung des viel zu spät fertig gewordenen Beitrags gab und dass auch Leo Riegel, bei dem wir kurz vor knapp Illustrationen bestellten, keinen rechten Zugang fand.


Als kein großer Wurf muss leider auch die Telefonaktion "Og'würgt is!" (S. 14-19) bewertet werden. Deren Hintergrund, zu dem es auf S. 45 noch einen lustigen Uwe-Becker-Cartoon sowie auf S. 7 ein hübsches politisches Gedicht von Moritz Hürtgen – eine Premiere! – gibt, er dürfte so gut wie vergessen sein: Der CSU-Pressesprecher Hans Michael Strepp hatte dem ZDF telefonisch gedroht, es werde "Diskussionen nach sich ziehen", sollte der Sender über den Parteitag der bayerischen SPD berichten, und musste daraufhin "seinen Sepplhut nehmen". Die Kollegen Wolff, Ziegelwagner und ich riefen nun in schlechtem Bairisch als "CSU-affine Streppenzieher" diverse Lokalredaktionen an, um sozifreundliche Berichterstattung zu unterbinden.


Die Umsetzung der an sich cleveren Idee trug nicht die erhofften Früchte. Bemängelt wurden bei der folgenden Herausgeberkonferenz zudem die unpassenden selbstgeschossenen Begleitbilder, von welchen eines uns drei Streichespieler selbstherrlich feixend an einer Bierzelttafel zeigt. Aufschlussreich ist jenes Foto zumindest für mich, insofern es nämlich bewusst macht, was für Babyfaces wir damals noch waren! Ich hatte immer geglaubt, ich hätte damals schon zehn Jahre älter ausgeschaut, als ich war ... Auf der U4 kann man mich noch einmal sehen, hier allerdings mit zum Untermauern der Stoßrichtung dieser Fake-Anzeige müde geschminkten Augenrändern.


Apropos selbstgeschossen (Tom Hintner hasst den Anglizismus "Fotos schießen" übrigens): Weitaus gelungener ist des Duos Fischer/Wolff fünfseitiger Comic-Hybrid aus Agentur- und selbstgemachten Fotos auf Seite 24ff., die m.M.n. weiter nach vorn gehört hätte. Es handelt sich um den Mitschnitt einer Nachrichtensendung auf "Al-Dschasira 24", in der im Stile islamophober Auslandsreportagen jener Epoche über die rezenten Erfolge der Grünen in Baden-Württemberg gehetzt wird. Ein feiner Spaß mit "Claus Kaaba" und "Marietta Burka":


Historisch wertvoll ist Michael Ziegelwagners schönes Portrait des damaligen Debattenressortleiters des Focus, den "Gossen-Nietzsche" Michael Klonovsky, der heutzutage zwischen Fleischhauer, Martenstein und der Welt-Bagage kaum auffallen würde, aber gottlob ohnehin zur publizistischen Fußnote verkommen ist, seit er sich 2018 ... aber das kann man ja bei Wikipedia nachlesen.

Ein unauffälliges Highlight befindet sich in den "Briefen an die Leser" in Form einer Promo zum frisch angekündigten neuen "Tatort"-Team, die sich in einer Redaktion mit fränkischem Kollegen geradweg aufzwang:


Gezeigt werden soll abschließend die diesmonatige Abo-Anzeige, sieht man doch in ihr das brave Model Lovis, den Hund einer Redaktionsfreundin. Das Tier hat nach der Aufnahme noch auf den legendären Gaddafi-Teppich uriniert.


Weiteres Notierenswertes
- Ha, das war die Zeit, in der die Frankfurter Rundschau einzugehen drohte (s. Editorial)! Wenig später wurde sie von der FAZ übernommen.
- Ha!, entfährt es mir ferner beim Überfliegen von Oliver Nagels alljährlicher Britcom-Schau, denn einige der darin vorgestellten Serien habe ich erst wahrgenommen und konsumiert, seit ich mich vor ein paar Jahren verstärkt für britisches TV zu interessieren begonnen habe. (Korrektorengrübelei: Kann man damit beginnen, etwas verstärkt zu tun? Ich meine: ja.) Und ich lese, dass es eine späte "Alan Partridge"-Miniserie namens "Midmorning Matters" gab. Oha!
- Völlig aus gewiss nicht nur meinem Gedächtnis verschwunden war der Piraten-Geschäftsführer Johannes Ponader, den Mark-Stefan Tietze auf S. 48f. in einer Cinema-Parodie auftreten lässt. Der Ex-Politiker ist inzwischen Schauspieler und Theaterregisseur.
- Sowohl bei Kahl als auch bei Hurlmeier wird in diesem Monat Schlachtvieh penetriert. Solche Doppelungen fallen einem oft erst nach einer halben Ewigkeit auf.
- Vorweihnachtsbedingt werden mehrere Bücher aus dem Titanic-Umfeld beworben, darunter "101 Dinge, die Sie sich sparen können" (Bräuer/Nagel), "Macht Sex Spaß?" (hg. v. Volker Surmann) und "Quatsch" (Schiffner/Sonneborn), eines der "drei komischsten Büche[r] in meinem Bücherregal" (Zitat ich, an anderer Stelle).
- Der Katz+Goldt enthält eines meiner All-time-Lieblings-Panels:


Schlussgedanke
Einfach nur WOW! Wer über diverse Dinge, die ich hier nicht zitiert oder gezeigt, sondern nur angedeutet habe, selbst staunen, lachen und/oder den Kopf schütteln möchte, möge sich das Heftchen per Online-Bestellung zulegen. Es lohnt sich.

Montag, 21. November 2022

Der Rosetta-Stein der Deutschen Bahn

Bei meiner letzten ICE-Fahrt habe ich zum ersten Mal einen genaueren Blick auf das über dem Nothammer hängende Warnschildchen geworfen:


Ich kam nicht umhin, die Nuancen, die sich in dem viersprachigen Hinweis finden, zu bemerken.
"Missbrauch strafbar" heißt es auf Deutsch, auf Englisch aber nicht analog "Misuse punishable", sondern "Misuse will be punished". Ein kleiner, aber feiner Unterschied: Deutschsprechende können bei Hammermissbrauch bestraft werden, Englischsprechende werden es in jedem Fall. Genau so alternativlos sind die Folgen, welche die französische und die italienische Zeile versprechen: "... wird bestraft". Man beachte außerdem, dass in jenen auch noch ein "jeder" vorangestellt ist (tout/ogni), während man sich bei der englischen Version ein "any" gespart hat.
Ob das irgendeine tiefere Bedeutung hat, kann ich nicht sagen, ich bin ja kein Kulturwissenschaftler. Vermutlich sind die Abweichungen so beliebig wie bei Mirácoli.
 

Samstag, 19. November 2022

Gedankensplitter & Notizen

These: Es ist heute möglich, das Gesamtwerk Tschaikowskis allein über die popkulturelle Zweitverwertung kennenzulernen.

Endstation farbenblinder Buntmetalldieb

Fernsehserien, die es tatsächlich gibt: "Hund mit Blog" (Dog with a blog), eine Kindersitcom über einen sprechenden und bloggenden Köter.

Der Trend geht zur Dritttrittleiter.

Erschütternde Feststellung 1: Im Supermarkt spielen sie Hoobastank.
Erschütternde Feststellung 2: Ich kenne den Bandnamen "Hoobastank".

Schönes neues Wort: Zweitpflichthoster. Schönes altes Wort (aus der Wildwestzeit): Zweitholsterpflicht.

Actually, I had a lot of dates in my life. No, wait... the other one: figs.

Im Zug mitgehört: “Wo hat Angela Merkel eigentlich studiert?“ - “Ich glaube in Dresden, zumindest gibt's da einen Merkel-Bau.“

Deine Mutter nennt Thiruvananthapuram noch Trivandrum.

Schöne Komplimente, die heute niemand mehr macht: "Er konnte rechnen wie Euler." (Voltaire, Candide)

Fakt: Die Schülerband der Freien Montessorischule Huckepack heißt "Bamsemums".

Das männliche Pendant zum Venushügel ist die sog. Marswölbung: ein dicker Bauch nach übermäßigem Schokoriegelverzehr.

Mittdreißigerinnen aus Dresden, die "Guddi!" und "Das is dor Hit!" sagen

(erstveröffentlicht 2013 auf Twitter)

Donnerstag, 17. November 2022

Worüber ich lachen kann

Im "Handbuch deutscher Kommunikationsverben" werden sage und schreibe 562 Sprechakt- und Kommunikationsverben erfasst und beschrieben. Nun können nicht alle diese Verben explizit performativ verwendet werden: Niemand wird sagen Hiermit lüge ich oder Hiermit schimpfe ich mit dir.

Zifonun, Gisela (2021): Das Deutsche als europäische Sprache. Ein Porträt. Berlin/Boston: De Gruyter. S. 50

Dienstag, 15. November 2022

Theseus' Band

Diese Woche treten The Cure in der Frankfurter Festhalle auf. Als ich die Ankündigungstafel zum ersten Mal sah, dachte ich: Wer von der Originalbesetzung wohl noch an Bord ist? Dabei hätte man auch ohne musikhistorische Spezialkenntnisse wissen können, dass Gründungsmitglied Robert Smith nach wie vor den Frontmann gibt. Die anderen sind aber alle mehr oder weniger neu. Simon Gallup, der 2021 seinen Austritt verkündet hatte, die Erklärung wenig später zurücknahm und jetzt wieder mittourt, kann zwar auch als Urgestein gelten, ist aber erst vor der Aufnahme des zweiten Cure-Albums hinzugestoßen, um den ursprünglichen Bassisten Michael Dempsey zu ersetzen.

Es blieb nicht aus, dass sich in der über 40-jährigen Bandgeschichte immer wieder Erneuerungen und Änderungen ergaben, aber sieht man sich die Aufstellungs-Timeline an, erkennt man doch eine gewisse Stabilität. Ob es wohl Formationen gibt oder gab, die im Laufe ihres Bestehens komplett ersetzt wurden? Diese Frage kam neulich zufällig im Something-Awful-Forum auf, und selbstverständlich hatte jemand ein Beispiel parat:

The Band of Theseus
Sugababes

1998: Siobhán Donaghy, Mutya Buena and Keisha Buchanan
2001: Mutya Buena, Keisha Buchanan and Heidi Range
2006: Keisha Buchanan, Heidi Range and Amelle Berrabah
2009: Heidi Range, Amelle Berrabah and Jade Ewens (no original members remain)
2011: Sugababes dissolves (presumably in tea)

2012: Siobhán Donaghy, Mutya Buena and Keisha Buchanan form "Mutya Keisha Siobhan"
2019: MKS rename as Sugababes

Wow, einmal ausgetauscht und dann rebootet! Und jetzt kommt's: Ich habe MKS 2013 ungeplant live gesehen, bei einer Open-Air-Silvestergala in Dublin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie da (auch) als "Sugababes" angekündigt wurden. Andernfalls hätte ich, wie vermutlich viele andere, zumindest nicht-irische, Anwesende, gar nicht gewusst, mit wem wir es da zu tun hatten.

Jetzt suche ich jedenfalls nach weiteren "Bands of Theseus". The Sweet kamen mir gerade in den Sinn, und damit lag ich nicht verkehrt. Zwar wird Gitarrist Andy Scott als "letztes lebendes Gründungsmitglied" gehandelt, aber streng genommen war er ein "Nachrücker": Frank Torpey zählte zur Urbesetzung, stieg aber bereits nach dem Release der Debut-Single 1968 aus, worauf Mick Stewart bis 1970 an der Gitarre stand. Erst dann kam Scott. Wer kennt mehr Fälle?

Sonntag, 13. November 2022

Lesetipp: Interview mit Karin Stüber

"Und was kannst du damit machen?" Diese Frage hörte ich als Student der Vergleichenden Sprachwissenschaft seeehr oft, vermutlich öfter, als wenn ich irgendein anderes geisteswissenschaftliches Fach studiert hätte. Etwas Konkreteres als "Keine Ahnung, mal sehen" konnte ich darauf nie erwidern. Dass es abseits akademischer Einrichtungen kaum Beschäftigungsmöglichkeiten für Indogermanisten gibt, war mir von vornherein klar gewesen, und letztlich hätte ich für den Job, in den es mich später verschlug, überhaupt keinen höheren Abschluss benötigt; bereut habe ich meinen Weg trotzdem nicht.

Ein extremes Beispiel für die unerwartete Zweitkarriere einer immerhin Sprachwissenschafts-Professorin lieferte jetzt ein Interview in der Neuen Zürcher Zeitung. Befragt wurde Karin Stüber, die mir in meiner Postgraduierten-Zeit wiederholt begegnet war, wann immer ich mich mit dem Keltischen zu befassen hatte. Ich glaube, ich habe sie sogar einmal auf einem Kongress reden hören. Jedenfalls arbeitet Karin Stüber seit kurzem als ... millionenschwere Autohändlerin!

Sowohl ein solcher Berufswechsel als auch – das muss man ganz klar sagen – die Entscheidung, sich full-time einer potentiell unlukrativen Nischendisziplin zu widmen, erfordert eine gewisse Privilegiertheit. Im Falle Stüber scheinen die Sterne seit jeher günstig gestanden zu haben.

Sie haben es getan. Sie beendeten Ihre akademische Karriere in Würzburg und wurden Verwaltungsratspräsidentin des grössten ­Mercedes-Händlers der Schweiz.
Mein Vater, Peter Stüber, führte die Firma mehr als 50 Jahre lang, sie gehörte ihm auch seit langem. Er sagte: Wenn ich 80 Jahre alt bin, möchte ich aufhören. Also musste sich die Familie überlegen, wie es weitergeht. Meine Schwester studierte Wirtschaft, aber sie wollte nicht seine Nachfolgerin werden. Die Verantwortung war ihr zu gross. Nun sitzt sie auch im Verwaltungsrat der Firma und unterstützt mich.

Warum haben Sie Ja gesagt?
Die Aufgabe reizte mich. Ich wollte etwas zurückgeben.

Wem wollten Sie etwas zurückgeben und warum?
Der Firma, den Mitarbeitern, der Familie. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar. Ich habe so lange profitiert. Ich konnte eine akademische Karriere machen und ein Fach studieren, das brotlos ist. Für Indogermanisten gibt es ausserhalb der Uni keine Stellen. Als ich eine Zeitlang keine Anstellung hatte, war das mit meinem Hintergrund kein Problem. Wenn ich aus einer Arbeiterfamilie käme, wäre das nicht dringelegen. Meine Karriere wäre vorbei gewesen.

Das ganze Gespräch, in welchem auch der hübsche Helvetismus Sackgeld fällt, ist hier zu finden. Mich hat übrigens ein Google-Alert zu "indogermanistik", den ich vor langer Zeit eingerichtet habe, dorthin geführt. So richtig lösen konnte ich mich von dieser herrlichen Wissenschaft nämlich bis heute nicht.

Freitag, 11. November 2022

Albernes zum Wochenschluss

Sketchidee: ein Fake-Trailer für eine "New York Edition" dieser (echten) Reality-Fernsehsendung


Verschiedene in New York lebende Personen äußern vor der Kamera ihren Verdacht, dass sich ein sog. Phrogger in ihrer Wohnung versteckt. Just dann schwenkt die Kamera einen halben Meter zur Seite oder zoomt heraus, und wir sehen den heimlichen Untermieter im Hintergrund stehen. "Oh, there he is!", sagt das Opfer. Schnitt: "Vorschau" auf die nächste Folge. Der Witz ist, dass sich die meisten (vor allem jungen) Menschen in New York nur ein Mini-Apartment leisten können. Einen Eindringling in einer 12-Quadratmeter-Einraumbutze würde man mithin auf der Stelle ertappen. Hahaha. Ha.

PS: Ich wollte eine Definition von Phrogging verlinken, aber alle deutschsprachigen Webseiten, die sich mit dem Thema befassen, sind absolut verlinkensunwürdiger Schrott. Das Phänomen und/oder die danach benannte TV-Show scheint noch nicht diesseits des Atlantiks angekommen zu sein. Dabei habe ich bereits 2020 einen Film (auf deutsch) gesehen, in dem zwei Phrogger eine bedeutsame Rolle spielen (seinen Titel zu nennen, wäre ein grober Spoiler). Also bitte selbstständig googeln, was es damit auf sich hat, falls nicht bekannt!

Mittwoch, 9. November 2022

😯

Als ich heute – was selten genug vorkommt – mehr als dreißig Sekunden lang durch meine Facebook-Timeline scrollte, sprach mich – was noch seltener vorkommt – tatsächlich eine Werbeanzeige an. Sie führte zu einem Onlineshop für britisch angehauchte Retro-Mode. Als ich in das Adressfeld meines Browsers klickte, um die URL zu kopieren, entdeckte ich darin etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte: ein Emoticon, genauer zwei Flammen-Emojis. So sah die URL aus (Anonymisierung durch mich, denn ich möchte unbezahlt werben):


Ich habe extra einen Screenshot gemacht, weil ich nicht wusste, was passieren würde, wenn ich die URL kopiere und in diesen Beitrag einfüge. Das werde ich jetzt versuchen:

www.______.com/collections/hot-sale🔥🔥

Wow, die Sonderzeichen wurden einfach so übernommen! Welch sinistre Magie ist hier am Werke? Wikipedia weiß es: "Damit eine Emoji-Domain funktioniert, muss diese in einen sogenannten Punycode umgewandelt werden. Punycode ist ein Zeichenkodierungsverfahren, das für IDN" (internationalized domain names, auch "Sonderzeichendomains", also Adressen mit Zeichen aus anderen als dem lateinischen Standardsatz; die gibt es seit 2010) "genutzt werden kann. Diesen Code benötigt man beim Registrieren einer solchen Domain. [...] Jedes Emoji hat einen eindeutigen Punycode, wie beispielsweise 😉 = xn--n28h. Es gibt im Internet verschiedene Generatoren, mit denen es möglich ist, Emojis in Punycode zu wandeln." Weiters ist zu erfahren, dass derzeit (Stand 2017) nur sechs Top-Level-Domains die Registrierung von Emoji-Domains erlauben, Subdomains mit Emojis immerhin "sind bei vielen beliebten TLDs möglich".

Mein Fundstück ist nun freilich kein genuines Beispiel für eine Emoji-Domain, nicht einmal für eine -Subdomain, und es ändert sich auch nichts am Seiteninhalt, wenn ich die zwei Feuer-Symbole aus der Zeile entferne, trotzdem habe ich nicht schlecht gestaunt darüber, was heute alles "geht" (mit Einschränkungen: Zum Beispiel werden Emoji-Domains nicht von allen Browsern unterstützt, in Opera funktionieren sie erst seit Februar 2022). Auf eine naheliegende Schwachstelle macht der Wiki-Eintrag zu internationalisierten Domainnamen aufmerksam: "Die Verwendung von Unicode in Domain-Namen macht es einfacher, Webseiten mittels homographischem Angriff zu spoofen, da es die visuelle Repräsentation der IDN-Zeichenfolge in einem Browser manchmal unmöglich macht, eine legitime Seite von einer gespooften zu unterscheiden, abhängig vom verwendeten Zeichensatz." Und das gilt ja dann auch für Punycode. Beispielsweise könnte man für eine Phishing-URL ein Berg-Emoji durch ein anderes ersetzen:



Also ich muss mich schon sehr anstrengen, um da einen Unterschied auszumachen. Mir fällt es zugegebenermaßen aber auch schwer, zwischen diversen Smileys zu differenzieren (womöglich bin ich on the spectrum?).

Montag, 7. November 2022

Acht Köstlichkeiten


2 in 1; 3 in 1, das sind alte Hüte, ja selbst ein 4-in-1-Produkt kann man sich mit Leichtigkeit vorstellen. Dass einmal eine 8-in-1-Zahnpasta in mein Leben treten würde, hätte ich aber nicht für möglich gehalten,
yet here we are. Grund für den Gelegenheitskauf war der temporäre Preisvorteil gegenüber meiner (wie jede/r regelmäßig Lesende weiß) Stamm-Zahncreme Sensodyne Fluorid, und IN DIESEN ZEITEN muss man jedes Sonderangebot wahrnehmen.

Was sind nun die acht Features und Effekte von Colgate Komplett 8in1 Ultra Weiß? Diese:

  1. Kariesschutz
  2. Plaqueentfernung
  3. Zahnschmelzschutz
  4. Zahnhalskariesschutz
  5. Reinigung
  6. Frischer Atem
  7. Weißere Zähne
  8. Großartiger Geschmack
Da wäre sogar noch mehr drin gewesen. Irgendwas mit Zahnfleischpflege zum Beispiel.

PS: Als Inhaber eines chinesischen Restaurants würde ich ein Gericht anbieten namens "Acht Köstlichkeiten und eine Widerwärtigkeit".

Samstag, 5. November 2022

When in Rome ...

Eine gehalt- und anspruchsvolle Lektüre stellt Wolfgang Pehnts Städtebau des Erinnerns dar. Wie ein populärwissenschaftliches Werk anmutend, kommt es doch überwiegend akademisch daher, der Autor arbeitet mit vielen Fußnoten, flicht lateinische Zitate ein und droppt als bekannt vorausgesetzte architektonische Fachwörter. Immer wieder musste ich Sätze mehrfach lesen, denn neben ihrer Schwierigkeit eignet ihnen auch eine hohe Informationsdichte. Ich erfuhr viel Staunenswertes über Leitmotive, Vorbilder und Narrative bei der Entstehung und dem Wachsen bedeutender Metropolen (Mythen und Zitate westlicher Städte lautet der Untertitel), und das wenigste davon konnte ich im Gedächtnis behalten.

Das Kapitel über Athen hat es mir besonders angetan. Dass es in der griechischen Hauptstadt keineswegs ein Kontinuum seit der hellenischen Antike gab, war mir ja total unbekannt! Das alte Griechenland musste erst "wiederentdeckt" werden, und die Re-Antikisierung im 18. Jahrhundert erfolgte denn auch zuvörderst durch Rest-Europa, nicht zuletzt spielte Bayern eine gewichtige Rolle ... Aber es steht mir nicht zu und ist nicht mein Anliegen, die ganze faszinierende Geschichte nachzuerzählen, ich möchte lediglich einen kuriosen Nebenaspekt zitieren, der im 19. Jahrhundert, nach dem Ende der osmanischen Herrschaft, aufkam: "Orts-, Straßen- und Firmennamen wurden auf die Helden der griechischen Götter- und Heroenclique getauft. Es gab sogar Versuche, das Altgriechische als gesprochene Sprache wieder zu beleben." (S. 47)

Ein Vorteil der Rückkehr zum Altgriechischen liegt auf der Hand: Man hätte wieder eine durchschaubarere Buchstabe-Laut-Zuordnung und wäre nicht auf "Not"-Schreibungen wie "Ompáma" angewiesen. Darüber hinaus dient so eine Wiederbelebung ausgestorbener Sprachen freilich der Identitätsstiftung und -bewahrung. Im Falle Griechenlands wäre das wohl zu viel des Guten gewesen, denn mit dem Neugriechischen hatte man ja bereits eine autochthone und dem nationalen Bewusstsein genügende Zunge.

Sprach-Revival ist insgesamt ein bemerkenswerter Vorgang, dessen Erfolge von gelungen (wie im Falle des Manx) bis zu schwierig/mühsam/konstruiert reichen (wie im Falle des Tasmanischen). Bis vor gar nicht langer Zeit war übrigens hie und da zu lesen, dass es in Indien eine mindestens vierstellige Zahl an Menschen gebe, insbesondere im als "Sanskrit village" gehandelten Dorf Mattur, die klassisches Altindisch als Erst(!)sprache verwenden – ein Mythos, der inzwischen widerlegt ist, zu dessen Bestehen ich aber leider beigetragen habe, indem ich ihn jahrelang als Partyfakt verbreitet habe.

Donnerstag, 3. November 2022

Eis ist aus

Nach meinen früheren Beobachtungen bezüglich des "Hinweis auf Nicht-Angebote"-Trends konnte nun Tina Manske einen frischen Fund machen, den sie vor wenigen Tagen auf ihrer Facebook-Seite ausstellte. Mit freundlicher Genehmigung verewige ich ihn auch hier.

Für mich immer noch der Goldstandard verunglückter Eiskommunikation:
Gewünschte Botschaft: Du bekommst hier kein Eis.
Kommunikation:
1. Aufsteller mit einer niedlichen Eiszeichnung prominent platzieren.
2. Den Satz "Wir haben kein Eis" mit einem "Ja" beginnen.

Dienstag, 1. November 2022

Serientagebuch 10/22

02.10. Space Force 1.01
Space Force 1.02
03.10. House of the Dragon 1.07
04.10. The Staircase 1.07
The Staircase 1.08
05.10. MacGruber 1.07
MacGruber 1.08
06.10. Sherwood 1.01
Sherwood 1.02
07.10. Mr. Robot 4.05
Mr. Robot 4.06
08.10. Sherwood 1.03
The Simpsons 34.02
12.10. Sherwood 1.04
The Simpsons 34.03
House of the Dragon 1.08
14.10. Family Guy 21.02
17.10. Sherwood 1.05
Sherwood 1.06
18.10. Curb Your Enthusiasm 11.01
19.10. The Simpsons 34.04
20.10. House of the Dragon 1.09
21.10. Curb Your Enthusiasm 11.02
Curb Your Enthusiasm 11.03
24.10. Family Guy 21.03
The Big Bang Theory 12.07
25.10. Curb Your Enthusiasm 11.04
26.10. Mr. Robot 4.07
27.10. The Big Bang Theory 12.08
28.10. Curb Your Enthusiasm 11.05
The Simpsons 34.05
House of the Dragon 1.10
30.10. Space Force 1.03
31.10. The Simpsons 34.06

The Staircase ist die Dramatisierung (gibt es dieses Wort als deutsche Entsprechung zu dramatization eigentlich schon?) einer Dokureihe von 2004 über den Schriftsteller Michael Peterson, dessen Ehefrau im Dezember 2001 bei einem Treppensturz zu Tode kam. Ich bin nicht der größte True-Crime-Fan, aber da ich im Vorfeld außer einer Ein-Satz-Inhaltsangabe nichts über die Geschichte gelesen hatte – was ich jedem empfehle, mir gleichzutun –, gab ich dem Achtteiler eine Chance. Und wie ich belohnt und überrumpelt wurde! Der Fall ist wahrlich spektakulär, es gibt fast in jeder Folge eine verblüffende Wendung. Am Ende steht der Zuschauer vor gleich vier alternativen Tathergängen, die er von einem unzuverlässigen Erzähler gezeigt bekommen hat (und von denen der unglaublichste – und deshalb glaubwürdigste? – in Episode 6 präsentiert wird); ob die endgültige Wahrheit ans Licht kommt, möchte ich nicht verraten, es ist auch gar nicht so wichtig.
Die Causa offenbart einmal mehr die Schwächen des US-Strafrechtssystems, u.a. lernt man eine Idiotie namens Alford plea kennen, die Autorinnen und Autoren bemühen sich aber stets um eine ausgeglichene Darstellung der Umstände und eine realitätsnahe Schilderung juristischer Mechanismen. En passant wird an die beispiellose Verfasstheit Amerikas kurz nach den Anschlägen des 11. September erinnert.
Zu bejubeln ist der Cast: Den Hauptcharakter mimt Colin Firth, der mich hier immer wieder an Matthew Perry erinnert hat; ich glaube, Letzterer könnte Ersteren gut parodieren. Daneben glänzen Sophie Turner (dank Dialektcoach), Juliette Binoche, Toni Collette und Michael Stuhlbarg (den ich nach "Boardwalk Empire" nie und nimmer wiedererkannt hätte). HBO-gemäß wird es stellenweise sexuell und verbal explizit, aber nie so, dass es nerven täte.

Nicht gerechnet hatte ich mit einer irgend gearteten Fortsetzung von MacGruber, nachdem der auf beliebten SNL-Skits basierende Film von 2010 weder seine Produktionskosten einspielen konnte noch Begeisterungsstürme bei Kritik oder Fans hervorrief (außer bei Christopher Nolan). Der NBC-Streamingdienst Peacock hatte dann ein Einsehen bzw. den Mut, genug Geld für acht Episoden locker zu machen, die beinahe nahtlos (mit einem Recap in der Pilotfolge und mit einem entsprechenden Zeitsprung) an die Filmstory anknüpfen. Neben Mit-Schöpfer und Hauptdarsteller Will Forte sind auch Kristen Wiig, Ryan Phillippe und Laurence Fishburne wieder dabei. Handwerklich geht die Action-Comedy als passabel durch, humoristisch konnte sie mich aber selten "abholen". Womöglich bin ich mittlerweile einfach der Gore- und Ekelphase entwachsen.

Fein ist's, wenn man durch eine Serie etwas lernt. Sherwood zum Beispiel hat mir beigebracht, dass der Sheriff von Nottingham ein real existierender Posten ist. Nun gut, es ist heute eher eine der Tourismusförderung dienende zeremonielle Position, aber offenbar dennoch tief genug im Gemeindewesen verwurzelt, um in diesem BBC-Sechsteiler als wichtige Figur, wenn auch nur kurz, aufzutreten. Falls ich je eine Vorstellung davon hatte, wie der Sheriff von Nottingham aussieht, wurde sie hier jäh über Bord geworfen, wobei ich nicht das traditionelle Ornat meine, sondern den Amtsinhaber, der nämlich tollerweise eine Amtsinhaberin ist (of colour zumal). Dass bereits 1931 der erste weibliche Sheriff den Dienst antrat, erfuhr ich durch Wikipedia, denn die Liste der bisherigen Sheriffs lässt sich lückenlos bis ins Jahr 1449 zurückverfolgen!
Mit Robin Hood hat die auf realen Vorkommnissen basierende Geschichte ansonsten nichts zu tun, von einer archaischen Mordwaffe abgesehen. Vielmehr geht es um die tiefen symbolischen Gräben, die der Britische Bergarbeiterstreik in ein nicht namentlich genanntes mining village gerissen hat, und das war das Zweite, was ich dank "Sherwood" gelernt habe: welche gesellschaftlich-sozialen Auswirkungen ebenjener Streik im Vereinigten Königreich zeitigte. Das in der Serie oft vorkommende Slangwort scab für Menschen, die sich damals nicht an den Streiks beteiligten, gilt bis heute als extrem verletzendes Pejorativum.
Es war nicht das eindringlichste rurale Krimidrama, das ich je sah, aber nicht nur aufgrund der angesprochenen Wissensmitnahme-Effekte wusste "Sherwood" zu gefallen. Zum rundweg soliden Ensemble gehören David Morrissey, Robert Glenister ("Hustle"), Adeel Akhtar ("River", "Utopia") und Mark Addy.

Und mit Mark Addy, der in der ersten Staffel von "Game of Thrones" eine Hauptrolle innehatte, habe ich die perfekte Überleitung zu deren hitzigst antizipiertem Prequel House of the Dragon. Viel habe ich gar nicht anzumerken. Meine Erwartungen wurden übertroffen, ich fühlte mich ab der ersten Minute wie zu Hause angekommen. Da ich die Buchvorlage nicht kenne, konnte ich mich der Handlung mit all ihren Volten und Schockmomenten genussvoll hingeben. Jener Vorlage geschuldet ist freilich die Chronikhaftigkeit der zehn (angenehm langen) Episoden: Man bekommt die aufregende Historie des Hauses Targaryen in epischer Breite und aus verschiedenen Perspektiven vorgelegt, alles ist herrlich GRRM-typisch rau, pointiert und komplex, aber wenn die erzählte Zeit sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, bleibt es nicht aus, dass manches gehetzt wirkt, auch wenn HotD sich – gerade im Vergleich zu den letzten GoT-Staffeln – löblicherweise viiiel Zeit lässt und das Tempo dort drosselt, wo es der Gewichtung ausgewählter Events zupass kommt. Dann gibt es aber wieder von einer Folge auf die nächste einen harten Cut (wenn auch deren nur insgesamt vier, und in Season 2 soll ganz damit Schluss sein), und man muss sich an ein Dutzend neuer Gesichter gewöhnen und sich gewisse Ereignisse aus mündlicher Rekapitulation durch die Figuren oder implizit erschließen. (Am besten liest man eh direkt im Anschluss die Zusammenfassungen in der GoT-Wiki oder sieht sich die Analyse-Videos von "Heavy Spoilers" oder "Screen Crush" an.) Die Konsequenz war, für mich zumindest, dass ich hier, ganz anders als in der Originalserie, keinen Lieblings-Charakter hätte benennen können. Das wäre dann aber auch mein einziger dickerer Kritikpunkt. Effekte, Dialoge, Musik, Kostüme und Locations sind wie zu erwarten erste Sahne.