Mittwoch, 27. September 2023

TITANIC vor zehn Jahren: 10/2013


Damit hätte niemand gerechnet (außer alle): Merkel ist Bundeskanzlerin, Peer Steinbrück in die ewigen Jagdgründe eingefahren. Neben dem für sich sprechenden Titel geht ein fast von der gesamten Redaktion zusammengestellter sechsseitiger Nachklapp zur Bundestagswahl auf deren Ausgang ein.

Aufmacher in dieser Ausgabe ist jedoch die Reportage über einen Besuch in Bad Hersfeld. Diese Stadt hatte kurz zuvor etwaige Pläne, unter der Erde lauernde Gasschätze zu fördern, einhellig stillgelegt, "[d]och laut Spiegel haben internationale Energiefirmen erst vor kurzem wieder begehrliche Blicke auf Deutschland geworfen, so etwa die kanadische 'BNK Petroleum', die in Nordhessen herumbohren wollte." Also fuhren Leo Fischer, Volontär Valentin Witt, Neuredakteur Moritz Hürtgen und ich, bewaffnet mit "liebevoll zusammengelogenem Informationsmaterial" ("Bad Hersfeld. Hauptstadt des Frackens") ebendort hin, verschafften uns ein Stimmungsbild und bereiteten die Bürger auf die kommende "Gastastrophe" vor, bis wir nach kaum zwei Stunden angesichts des miesen Wetters keine Lust mehr hatten ("Zutiefst verstört ziehen wir uns in den Bahnhofskiosk zurück. Doch beruhigt uns das dritte Nachmittagsbier nicht wie üblich, verstärkt vielmehr noch unsere Paranoia. Und ist da nicht ein öliger Beigeschmack?"). Die Lustlosigkeit schleppten wir noch bis in die Redaktionsräume mit, den Aktionsbericht schrieb am Ende zu 90 % Leo Fischer.


Nach den "Tricks der Zauberer" im letzten Heft fand die Branchencheck-Parodie mit diesem Fake-Titel in den "Briefen" eine Fortsetzung:


Neben Bad Hersfeld war in jenen Monaten eine weitere hessische Gemeinde wiederholt in den Schlagzeilen, genauer der dort residierende, heute notorisch hipsterbärtige Franz-Peter Tebartz-van Elst: "Sein neuer Bischofssitz ist gerade für amtliche 20 Trillionen Euro fertig geworden, mit seinen Neidern gab's deswegen ordentlich Beef. 'Alles Spießer', pariert der umstrittene Gangsta-Katholik (Künstlername: 'The Koboldmaki') und lädt rotzfrech zur Churchwarming-Party." (M. Ziegelwagner, S. 34f.)


Abzuwatschen war auch endlich mal eine Personalie, die viel zu wenige auf dem Schirm hatten und haben, nämlich Hannes Jaenicke, der mit einem erbärmlichen Augenöffnerbuch und Wohlstandsbetroffenheit von Talkshow zu Talkshow tingelte. Man glaube mir, dass Leo und ich beim Schreiben der Abrechnung zu gleichen Teilen mit Heiterkeit (Affensexwitze!) und gerechtem Zorn erfüllt waren.


Das Oktoberheft ist auch immer das Buchmessenheft, und Gastland in Frankfurt war 2013 Brasilien. Wie üblich veranstaltete Titanic einen Lesewettbewerb ("Die große TITANIC-Regenwald-Vernichtungs-Lesung", s. S. 9), aus welcher ich mit meinem Beitrag als Sieger hervorging (ein Erfolg, den ich 2014, gemeinsam mit Michael Ziegelwagner, wiederholen konnte). Illustriert hat ihn, wie man sieht, der zukünftige Hauszeichner Leo Riegel.


Die diesmonatige Ausgabe von "55ff" enthält nicht nur eine meiner All-time-Lieblings-Sebastian-Klug-Rubriken:


... sondern auch einen Hinweiskasten, der einen realen Anlass aus meinem Leben hatte:


Ich weiß bis heute nicht, wer der Herr auf dem Foto ist, aber das Bild erschien eine Zeitlang sehr weit oben, wenn man in die Google-Bildersuche den Namen Ulrich eingab. Es diente mir im Titanic-Mitarbeiter-Rekrutierungs-Forum wussow.tk ein paar Jahre als Avatar.

Weiteres Notierenswertes
- Ein später Klassiker von Eckhard Henscheid (S. 40f.) stellt klar: "Dieser Hitler! Er darf sich nie mehr wiederholen! Niemals!" Als es bei der Themenkonferenz hieß "Henscheid möchte etwas über Hitler schreiben", war die allseitige Reaktion eine Mischung aus Perplexität, Neugier und Ernüchterung; das Ergebnis kann sich indes lesen lassen: "Bereits die häufige Benennung des Hochwassers vom Juni 2013 als 'braune Brühe' durch Presse, Funk und Fernseh läuft auf eine schleichende Verharmlosung des nur scheinbar gutmütigen, in Wirklichkeit sehr bösen, ja 'grundbösen' (L. Rinser) Hitler und seiner nur scheinbar ungefährlichen Grundfarbe Braun (Braunau, Eva B. usw.) hinaus." E. Henscheid hat übrigens bis zum Schluss (und tut es weiterhin; zumindest ist zu hoffen, dass er mal wieder was in seinem alten Stammmagazin veröffentlicht) alle Manuskripte postalisch als Schreibmaschinenseiten eingesandt, die in mühsamer Tipparbeit von der Redaktionsassistenz digitalisiert werden mussten.
- Sehr insiderig, aber amüsant ist die lyrische Verhandlung der sichtbaren Gewichtsabnahme des Großschriftstellers, der bei uns über Monate hinweg teils offen, teils versteckt als "der dicke Kehlmann" tituliert worden war ("Satire wirkt! Eine Gratulation in eigener Sache" von Michael Ziegelwagner, S. 45).
- Und noch eine Personenerledigung: Gerhard Henschel über "den Lärmunfall Sibylle Weischenberg", eine Society-Expertin, die mir (zum Glück?) überhaupt nix mehr sagt (S. 58-60).
- Zu guter Letzt sei hier die wunderbare Kahl'sche U3 wiedergegeben:


Schlussgedanke
Eine Ausgabe, die von vorne bis hinten gute Laune macht. Vielleicht die beste des Jahres? Bittersüß wird's beim nächsten Mal.

Sonntag, 24. September 2023

Spukhafte Fernwerbung

Am Dienstag, dem 12. September, lag sowohl der FAZ als auch der Süddeutschen Zeitung etwas ganz Besonderes bei: Werbung für Kenneth Branaghs neue Poirot-Verfilmung "A Haunting in Venice" in Form eines dicken Hochglanzfaltzettels.



So eine Form des Marketings habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Und hätte ich im Jahr 2023 auch nicht erwartet. Früher, ja, früher, da hatten die Verleihe Geld! In meiner Zeit als regelmäßiger Besucher von Pressevorführungen gab es zu nahezu jedem Film ein wertiges Begleitheft, bei Blockbuster-Vorschauen manchmal sogar zusätzliche Gimmicks. Heutzutage, höre ich, sind Pressemappen allenfalls digital abrufbar. Gedrucktes kostet zu viel Geld. Was hat 20th Century in diesem Fall wohl geritten?

Den beworbenen Krimi werde ich mir übrigens, wenn auch nicht im Kino, gewiss irgendwann anschauen. Die beiden Vorgänger, "Mord im Orient Express" und "Tod auf dem Nil", habe ich ausgelassen, weil ich kurz zuvor die Siebzigerjahre-Fassungen gesehen hatte und die jeweiligen Auflösungen in frischer Erinnerung hatte. Über "Haunting" bzw. Christies Vorlage "Die Schneewittchen-Party" hingegen weiß ich gar nichts.

Donnerstag, 21. September 2023

Evolution im Frankfurter Hauptbahnhof

Ich bin nicht unbedingt der Auffassung, dass die Menschheit immer dümmer wird. Aber dass den Menschen zunehmend alles ausformuliert und vorgekaut werden muss, dass man sie an die Hand zu nehmen, sie in die Schranken zu weisen hat, ist allüberall wahrzunehmen. Vormals Selbstverständliches muss in Vorschriften gegossen werden. Man kommt ja beim Wandern kaum noch an einer Koppel vorbei, an deren Umzäunung kein Hinweis hängt à la "Bitte die Schafe/Pferde/Ziegen nicht füttern!!! Uns sind in diesem Sommer bereits drei Tiere verreckt. Lassen Sie in Gottes Namen Ihr 'Futter' im Rucksack!"

Eine dieser omnipräsenten verachtenswerten, überteuerten, generischen Zugreiseproviantverkaufsstellen (ich weigere mich, das Wort "Bäckereien" zu verwenden) hat unlängst Orientierungshilfen auf den Boden kleben lassen, damit Vorbeikommende wissen, wo sie sich, wenn sie etwas erstehen möchten, anstellen und wo sie, wenn nicht, weiterziehen sollen. Na klar, warum nicht? Vorher kam es in dem ohnehin ständig überlaufenen Bahnhof wahrscheinlich regelmäßig zu Verknotungen, Doppelschlangen und Behinderungen, garantiert habe auch ich schon mal irgendwo deppert im Weg gestanden. Trotzdem ist die Existenz solcher Markierungen höchst symbolträchtig.

Montag, 18. September 2023

Sechs-und-zwantzig obscure Kreutzwortraetsel=Lösungen

  • Säulenwulst: Torus
  • kalte Quelle (unter 20°): Pege
  • Altarraum orthod. Kirchen: Abaton
  • subtropischer Bodentyp: Tirs
  • Hausflur im Bauernhaus: Eren
  • flauschiger Mantelstoff: Ratine
  • noch unreines Alkoholdestillat: Lutter
  • ein Wollgarn: Zibeline
  • Webkante: Salband
  • Feingehalt einer Münze: Korn
  • antike Sonnenuhr: Gnomon
  • kleiner antiker Schild: Pelta
  • ortsungebund. Wassertiere: Nekton
  • türkischer Molkenkäse: Lor
  • Prolog älterer span. Dramen: Loa
  • farbige Schicht im natürl. Ton: Warwe
  • rotbraunes Furnierholz: Utile
  • Ohrklipp in Knopfform: Bouton
  • viersitzige Luxuskutsche: Landauer
  • Knopflochbesatz: Gimpe*
  • Reitbahn, -halle: Tattersall
  • rötlicher Boden in den Tropen: Laterit
  • Speer der Zulu: Assagai
  • Präzision im Mehrfarbendruck: Passer
  • Karpfenfischart (Döbel): Alet
  • Stiel der Sporenkapsel b. Moosen: Seta**

* Handelt es sich hierbei um dasselbe wie bei der "dünnen Baumwollschnur" (25.5.19)?
** Handelt es sich hierbei um dasselbe wie beim "Borstenhaar" (3.12.17)?

Freitag, 15. September 2023

Ostrale'O23 (2)

Kunst-Stoff

Liebe

Kabelknoten

Korbleger

Lebenslanges Lernen

Endnutzervereinbarung

Heim, Kino

Entdeckung

Dienstag, 12. September 2023

Ostrale'O23 (1)

Möglicherweise habt ihr an dieser Stelle vor zwei Jahren meine allfällige Ostrale-Kurzreview erwartet. Tatsächlich hatte die Biennale im Coronajahr 2021 regulär stattgefunden, unter strengen Hygieneauflagen freilich. Dass davon hier nichts zu lesen und zu sehen war, lag allein daran, dass ich mich in dieser schwierigen Zeit reisetechnisch stark eingeschränkt und es einfach nicht geschafft hatte, während der Ausstellungsdauer nach Dresden zu fahren. Das war umso ärgerlicher, als der Ort der Schau abermals in eine unkonventionelle Stätte verlegt worden war: von der historischen Tabakfabrik in die alte Robotron-Kantine, in welcher sich in meinen Zwanzigern die Diskothek "Melly's" befand (in der ich ein einziges Mal war; es mag euch überraschen, aber ich war nie ein großer Clubgänger) und die danach wiederholt kurz vorm Abriss stand, ehe man sich auf die Nutzung als Kulturzentrum einigen konnte. Erfreulicherweise bleibt dieses herrliche Zeugnis großzügig-pragmatischer Ost-Architektur weiterhin erhalten und wird auch die kommende Ostrale beherbergen.

Und so fand und findet (noch bis 1. Oktober) auch die O23 in dem früheren Gastronomie-Flachbau statt. Mein Urteil: Die Räume eignen sich hervorragend für Kunstausstellungen. Man kann sich, je nach Präferenz, sowohl locker zwischen den Objekten treiben lassen als auch einem klassischen Rundgang folgen. Die Lichtverhältnisse sind optimal, was einem umso mehr auffällt, als der Ausstellungsfläche eine "Dunkelkammer" vorgeschaltet ist, durch die man sich vom Eingangs- zum Ausgangsvorhang an einem Geländer entlang tastet. Auch die Werke selbst wissen zu gefallen; ich möchte sogar meinen, dass die diesjährige Auswahl die drei davor von mir begutachteten bei weitem übertroffen hat. Hätte die documenta fifteen auch nur ein Zehntel dieses Niveaus erreicht, wäre ich zufrieden gewesen. Das einzige, was mir sauer aufstieß, war der Eintrittspreis: 15 Euro müssen erwachsene Vollzahler hinlegen, freier Eintritt für Journalisten ist nicht mehr vorgesehen.

Hereinspaziert!

Scheinflora 1

Scheinflora 2

Scheinflora 3

Aufschüttung

Kantinenatmo

Machetenkonzert 1

Machetenkonzert 2


Samstag, 9. September 2023

Selbstgezeichnetes zum Samstag

Machen wir uns nichts vor, ihr guckt ja eh zuerst auf die Bilder, bevor ihr den Begleittext lest. Hier also die Zeichungen:



Und nun die Hintergrundgeschichte. Im letzten Serientagebucheintrag hatte ich mich an den brillant-behämmerten Webcomic "White Ninja" erinnert, der leider schon seit etlichen Jahren offline ist. So viel zu "Das Internet vergisst nichts"! Gott segne das "Internet Archive", wo man die langlebige Comicreihe noch findet, inklusive der mehr als 2000 (!) Fan-Comics. Jede Gastzeichnung, die eingeschickt wurde, erhielt die Ehre einer Veröffentlichung, und nicht nur das: Im Sommer 2006 riefen die Macher einen "Fan Art Contest" aus, bei dem ich natürlich mitmachen musste. Ich weiß zwar nicht mehr, was es als Hauptgewinn gab, aber ich hatte sofort zwei Ideen, die ich mit Bleistift auf Papier ausarbeitete, einscannte und einsandte (siehe oben).

Wenig später bekam ich eine Antwort-Mail, in der mir einer der beiden White-Ninja-Erfinder versicherte, die Horoskop-Geschichte sei der lustigste Fan-Comic, den er je gesehen hatte. Dieses Lob zähle ich bis heute zu den größten Erfolgen meines Lebens. Den ersten Platz belegte ich dann zwar nicht (#1 war ein White-Ninja-Tattoo [!] und #2, glaube ich, eine Schnitzerei oder etwas Gestricktes, ergo zwei Beiträge mit weitaus mehr Aufwand und commitment), aber für die Bronze-Platzierung erhielt ich immerhin einen gedruckten Sammelband ...



... sogar handsigniert mit individuellem Bonus-Panel versehen!


Ich bereue es, dass ich mir niemals die anderen Bücher bestellt habe. Volume 4 habe ich vor dem Schreiben dieser Zeilen noch einmal durchgeblättert und musste an mehr als einer Stelle Tränen lachen.

Mittwoch, 6. September 2023

Der Ausstieg

Das Folgende hat sich bereits im Oktober 2020 zugetragen. Ich habe es (fast) noch niemandem erzählt.

Ich kam mit der Regionalbahn von einer Solo-Wanderung zurück, alles war normal bis zufriedenstellend verlaufen. Frankfurt am Main Hauptbahnhof sollte der nächste und letzte Stopp sein. Doch bis dahin kamen wir nicht: Kurz vor Verlassen des Stadtwaldes (für Eingesessene: etwa auf der Höhe der Station Louisa) gab es eine spürbare Erschütterung, begleitet von einem kräftigen Ka-wumm! oder auch Pardauz! Dann eine Vollbremsung. Alsbald war klar: Der Zug war über etwas gerollt, das dort nicht hätte sein sollen, und es war kein Ast. Es war auch kein Tier.

Rückblick: Wiederum etliche Jahre zuvor saß ich in einem ICE, der mit fast 200 Sachen ein Reh erfasste und am nächsten Betriebshalt seine Fahrt nicht fortsetzen konnte, weil der wuchtige Kadaver blockierend im Radsatz des Triebwagens hing. Ich versäumte es leider, während unserer Zwangsrast ein Bild des unfreiwilligen Passagiers zu machen und dieses auf Twitter mit der Zeile "Im Bordrestaurant servieren wir heute Wildgulasch" zu teilen.

Zurück zur Geschichte, bei welcher mir ganz und gar nicht nach schwarzem Humor zumute war. 
Es passierte zunächst minutenlang: nichts. Verwirrung und Besorgnis machte sich unter den Mitreisenden breit, wobei die übliche Unruhe und Flucherei ausblieb, die sich normalerweise einstellt, sobald eine Zugfahrt außerplanmäßig unterbrochen wird. Endlich erschien ein Mitarbeiter. Er schritt stracks vom hinteren zum vorderen Waggonende, dabei sich ihm in den Weg Stellende kurz angebunden auffordernd, sitzen zu bleiben und sich zu gedulden. Eine weitere Zugbegleiterin flitzte irgendwo hin; ich vermag nicht mehr zu sagen, wie viel Personal involviert war und was es im einzelnen tat. Nie vergessen werde ich aber jenen Schaffner im Vorruhestandsalter, der die Frage eines Passagiers, ob man aussteigen dürfe, in breitestem Sächsisch beantwortete. Es ist schon putzig – egal, wo in der Republik man den Bahnverkehr nutzt, ein sächsischer DB-Bediensteter ist nie weit. Jedenfalls brüllte dieser Sachse: "Sie können da ni' raus, da draußen is' Hackfleisch!"

Eine knappe Stunde verging ohne für uns Eingesperrte erkennbare Entwicklungen. Doch dann wurden Einsatzkräfte sichtbar. Viele Einsatzkräfte: Feuerwehr, Polizei, Sanitäter usw. Eine Ärztin erschien und fragte jeden einzelnen Fahrgast, ob alles in Ordnung sei, ob Hilfe benötigt werde. Als nächstes bat ein Feuerwehrmann um Aufmerksamkeit: Es werde gleich eine (und zwar nur eine) Tür geöffnet, durch die wir einer nach dem anderen nach draußen geleitet würden. Das geschah dann auch. Weil sich der Ausgang ein gutes Stück erhöht befand, wir waren schließlich außerhalb eines Bahnsteigs zum Stehen gekommen, war eine metallene Leiter vor ihn positioniert worden. Darüber kletterten wir ins Freie, wobei uns links und rechts stützende Hände führten. Durch eine mit Verkehrshütchen markierte Notgasse begaben wir uns über Schotter und Schienen zur nächstgelegenen Tram-Haltestelle. Dort wartete auch direkt eine Straßenbahn, mit der ich günstigerweise bis vor meine Haustür fahren konnte. "Wer so viel und oft durchs Land juckelt wie ich, muss ja rein statistisch früher oder später derartiges erleben", versuchte ich mir den Vorfall zu rationalisieren. Meine Knie zitterten an diesem Abend trotzdem noch ein Weilchen.


Rund zwei Jahre später las ich eine Publikation von Mark Benecke, worin dieser den Wert historischer Lehrbücher der Gerichtsmedizin hervorhob: In solchen finde man nämlich zuweilen aussagekräftige Fotos von Eisenbahnüberrollungsopfern, wie man sie heute kaum noch sehe – unsere schnellen Züge moderner Bauart verursachten keine so "schönen, sauberen Schnitte" mehr. Die Umschreibung "Hackfleisch" war in jenem Fall wohl treffend.

Sonntag, 3. September 2023

Der gute Sonntagslink (plus Entschuldigung)

Wusstet ihr, dass es sämtliche Ausgaben von "Ich und mein Staubsauger", dem West-Berliner Fanzine, in dem Max Goldt Ende der 1980er Jahre seine ersten "Onkel Max"-Kolumnen veröffentlichte, online gibt? Wusste ich auch nicht, bis mich Scott Hühnerkrisp vor einer Weile indirekt darauf aufmerksam machte.

Die liebevoll rotzig, professionell-dilettantisch gemachten Ausgaben, in denen man viel über die Club-, Sub- und sonstige Kultur der wilden Vorwendezeit erfährt, könnt ihr in den kommenden Wochen lesen. Denn hier im Blog wird es im September etwas ruhiger werden. Jawohl, es ist mal wieder Zeit für einen "Sorry fürs Nichtsbloggen!"-Beitrag bzw. -Halbbeitrag. Ich werde zwar versuchen, mindestens alle drei Tage etwas auf Kybersetzung einzustellen, der gewohnte Turnus kann aber leider nicht durchgehalten werden. Ich bitte um Nachsicht.

Freitag, 1. September 2023

Serientagebuch 08/23

01.08. Leverage 2.06
02.08. Manifest 4.19
04.08. Gary and His Demons 2.01
Gary and His Demons 2.02
Gary and His Demons 2.03
06.08. Archive 81 1.02
Archive 81 1.03
07.08.
Gary and His Demons 2.04
Gary and His Demons 2.05
Manifest 4.20
08.08. Leverage 2.07
Mid Morning Matters with Alan Partridge 2.04
Grace 3.01
09.08.
Gary and His Demons 2.06
Gary and His Demons 2.07
10.08. Grace 3.02
13.08. Archive 81 1.04
14.08. Leverage 2.08
Mid Morning Matters with Alan Partridge 2.05
Grace 3.03
15.08. Gary and His Demons 2.08
Gary and His Demons 2.09
Gary and His Demons 2.10
17.08. Mid Morning Matters with Alan Partridge 2.06
Line of Duty 6.01
Line of Duty 6.02
21.08. Fleabag 2.01
Fleabag 2.02
22.08. Line of Duty 6.03
Line of Duty 6.04
Line of Duty 6.05
23.08. Line of Duty 6.06
Line of Duty 6.07
24.08. Archive 81 1.05
28.08. Leverage 2.09
29.08. Fleabag 2.03
Leverage 2.10
30.08. Leverage 2.11
Hijack 1.01
31.08. Fleabag 2.04
Archive 81 1.06

Oh Mann, hätte ich gewusst, dass die von mir im April besprochenen Folgen der 4. Staffel von Manifest nur die erste Hälfte dieser Staffel waren, hätte ich mir die Kurzrezension natürlich gespart. Ich dachte, es würde danach mit einer 5. Staffel weitergehen; stattdessen zählten die neuen zehn Episoden noch zur vierten. Wann ging das eigentlich los mit dem unsäglichen Trend des Season splitting? Zum ersten Mal habe ich es bei "Breaking Bad" erlebt, soweit ich mich erinnern kann. Wie ich hörte, wurde die finale Staffel von "The Walking Dead" sogar in drei Teile zerstückelt.
Jedenfalls bin ich froh, dass "Manifest" nun vorbei ist. Schön war, dass man sich für das Ende ungewöhnlich viel Zeit genommen hat, nachdem man vorher recht hektisch von Szene zu Szene gesprintet ist. Bin ich zufrieden mit der Auflösung? Ja. Ein bisschen zu christlich war mir das Ganze, die Parallelen zu "Lost" waren unübersehbar (aber wohl auch unvermeidbar), und die kleineren und größeren handwerklichen flaws habe ich ja schon hier und da aufgezeigt. Als maßvoll spannende Mysterykost für zwischendurch taugte "Manifest" dennoch.

Vor noch gar nicht langer Zeit habe ich mit viel Gewinn die zweite Staffel von Grace gesehen, diesen Monat habe ich mich direkt auf die Fortsetzung gestürzt. Die Qualität hat noch einmal zugenommen, so dass ich mich freue, wenn im Frühling nächsten Jahres Staffel 4 anläuft. Der staffelübergreifende Handlungsbogen hat zuletzt ordentlich Fahrt aufgenommen, aber auch der jeweilige "Fall der Woche" vermochte stets zu überzeugen. Mitreißende Plots, glaubhafte Figuren, überraschende Wendungen, kurzum: britisches Crime-TV at its best!

Fortgesetzt werden soll auch die Erwachsenentrickfilmreihe Gary and His Demons! Was ich damals (Link s.o.) über Season 1 geschrieben habe, trifft auch auf Season 2 zu, betonen möchte ich bloß noch, dass die Dialoge durch die Bank weg grandios sind. Ich weiß jetzt auch, warum sie bei aller Pointenfixiertheit so natürlich wirken: "Improvisation plays a heavy role in recording the show, and the final product is a marriage of the script and improvisation. The creative team has said that they include as many improvisers in recording as possible." (Wikipedia)
Schaut man sich auf imdb das bisherige Schaffen von Co-Creator Mark Little an, erfährt man, dass dieser im Jahr 2015 Drehbücher für eine TV-Version von "White Ninja" geschrieben hat. "White Ninja Comics" war einer meiner All-time-Lieblings-Webcomics, leider ist sowohl die Comic- als auch die Animationsreihe längst vom Sande des Vergessens bedeckt worden.

Nun ist es also vorbei: Ich habe sämtliche Serien mit Alan Partridge gesehen. Mir war klar, dass es irgendwann dazu kommen würde. Entsprechend sparsam eingeteilt habe ich mir denn auch die letzten sechs Folgen von Mid Morning Matters, anstatt sie an einem oder zwei Tagen durchzusuchten. Und was für ein Vergnügen das wieder war! Bereits in den ersten 60 Sekunden der zwoten Staffel musste ich durchgängig feixen. Rückblickend muss ich dennoch zu dem Befund kommen, dass "This Time" Steve Coogans gelungenster Serien-Output war.
Und jetzt habe ich noch zwei Partridge-Bücher und einen Film vor mir!

Im Fall von Line of Duty konnte ich dem Drang zum Bingen nicht widerstehen. Satte sieben Episoden hat man uns zum Abschluss spendiert. Die waren auch nötig, um nicht nur den neuen Einzelfall (in dessen Zentrum ein von Kelly Macdonald aus "Boardwalk Empire" superb verkörperter DCI steht) abzuwickeln, sondern auch den überspannenden, auf schwindelerregende Komplexität angewachsenen Arc um Organisierte Kriminalität und politische Verschwörungen zu einem befriedigenden Ende zu bringen. Den Überblick über alle losen Fäden sowie die Dutzenden Namen und Figuren aus vergangenen Staffeln zu behalten, ist eine echte Herausforderung. Dank stetigem Wiederholen und zusammenfassendem Erklären durch die Hauptfiguren gelingt es einem aber, den Ereignissen und Kapriolen einigermaßen zu folgen, höchste Konzentration vorausgesetzt. Am Ende musste ich ein Tränchen verdrücken angesichts der Erkenntnis, dass es mit der "besten britischen Polizeiserie überhaupt" (Zitat ich) nun aus ist.
PS: Kompliment an Sascha Draeger (den Tim aus "TKKG"), dessen Dialogbuch und -Regie den anspruchsvollen Stoff und die zackigen Wortwechsel aufs Adäquateste in deutscher Sprache vermittelt haben!

Mittwoch, 30. August 2023

TITANIC vor zehn Jahren: 9/2013

Ich könnte mir vorstellen, dass etliche am Zeitgeschehen weniger Interessierte mit dieser Retusche eines ikonischen Pressefotos heute kaum noch etwas anfangen können:


Ihnen sei versichert: Der arme Gustl Mollath mit seiner traurigen Zimmerpflanze wanderte damals von Zeitung zu Zeitung, eine Verballhornung mit der Allzweck-Witzblaupause Merkel war mithin unvermeidbar. Die Idee zu diesem Cover hatte übrigens David Schuh eingesandt; der darf das!

Auch im Heftinnern ging es um die Kanzlerin. An eine Ablösung durch SPD-Konkurrent Steinbrück glaubte im Bundestagswahlkampfendspurt freilich niemand mehr. Die Motivation für einen Merkel-Aufmacher war denn auch nicht "Das könnte die letzte Chance für einen Fotoroman mit Merkel sein!", sondern: "Jetzt erst recht!" Um die Koalitionsträume der Regierungschefin ging es folgerichtig in der vier Seiten fassenden Fotostory von Fischer/Ziegelwagner mit dem Titel "Dreams of a Coalition". Wie wir wissen, kam es dann ja zur Großen Koalition mit der SPD, in Merkels Hirn wurden allerdings auch Partnerschaften mit beispielsweise der Linken durchgespielt.


Interessanterweise taucht in diesem Artikel zum ersten Mal in der Heftgeschichte (soweit ich sehe) der Name der Partei AfD auf.

Zeit für Selbstkritik! Der Beitrag "A Day in the Fleisch", in dem es darum geht, wo im Alltag uns überall tierische Produkte begegnen (Anlass war die Anregung der Grünen, wenigstens einen fleischfreien Tag pro Woche, z.B. in Werkskantinen, durchzusetzen), ist einer meiner schlechtesten und symptomatisch für die leider in Zukunft immer wieder sichtbar werdenden Ermüdungserscheinungen meinerseits. Einseiter wie diesen, mit pflichtgemäßem Abspulen vorhersehbarer Pointen, mit Wortspielen, Tierwitzen, erzwungenen non sequiturs und anderen Gaitzsch-Trademarks, habe ich im Laufe meiner Titanic-Zeit allzu oft abgeliefert. Hervorhebenswert ist immerhin, dass ich diesen Artikel eigenhändig illustriert habe.


Direkt rechts neben diesem Tiefpunkt (S. 23) beginnt ein weiterer Tiefpunkt, der sogar mit "Tiefpunktbeilage" überschrieben ist: das fünf(!)seitige Spezial "Schöner scheißen". Die Idee dafür hatte seit Monaten herumgelegen, immer wieder kam sie bei Inhaltskonferenzen auf, jedes Mal legte ich mein Veto gegen ihre Realisierung ein. Vergeblich. Irgendetwas zu diesem Sammelartikel habe ich am Ende sogar selbst beigetragen; ich habe vergessen, was, und möchte es auch nicht nachschlagen.


Nicht schämen muss ich mich hingegen für die Strecke "Noch mehr Terror gegen die Bundeswehr" (S. 47-49), die ich mit Leo Fischer verfasst habe und die eine oft und mit viel Anklang bei Lesungen vorgetragene Nummer werden sollte (wobei wir später einzelne Parts wegen "zu hart" wegließen). "Attacken auf die Bundeswehr sind mittlerweile trauriger Alltag [...]. Ende Juli zündeten Chaos-Linke in Sachsen-Anhalt 16 Bundeswehrlaster an! Hunderte Bierfässer platzten, die Durstlöscharbeiten dauern bis heute an. Und wer zahlt es am Ende? Mal wieder die überführten und verurteilten Links-Chaoten (sog. Schadensersatz)!"


Hübscher Gag im "Fachmann":


Diese Ausgabe von "Vom Fachmann für Kenner" enthält auch einen meiner Lieblings-Cartoons von Piero Masztalerz, wie das Heft auch absolute Klassiker von H. Richert ("Was heutzutage alles als Rocken durchgeht") und dem nun immer regelmäßiger gefeatureten L. Riegel beinhaltet:

(obere Hälfte abgeschnitten; wer den Cartoon noch nicht kennt, soll sich bitte einen von Leos Sammelbänden kaufen oder halt gleich die hier besprochene Ausgabe bestellen)

Als viertelseitigen Wegwerf-Gag in den "Briefen" findet sich auf S. 11 eine Parodie auf Focus-, Stern- und Co.-Reihen à la "Die miesen Tricks der Zahnärzte/Vermögensberater/Reisebüros". Später, ich glaube, erst Jahre später, wurde dieser Ansatz dann tatsächlich in einem vollständigen Artikel durchgespielt. Den wiederzulesen kann ich kaum erwarten.

Weiteres Notierenswertes
- Auf S. 40f. sehen wir die meiner Erinnerung nach letzte Folge von "Der unglaubliche Ulk". Danach hat man nie wieder etwas von Pierre Steinbach gehört.
- Für die Geschichtsbücher: "Bastian Langbehn ist der erste frei gewählte Abgeordnete der PARTEI" und wurde in jenem Monat von Leo Fischer besucht und porträtiert (S.36ff.). Ich glaube, ich bin dem guten Bastian nur ein einziges Mal begegnet, gewann dabei aber einen angenehmen Eindruck von dem Burschen.
- S. 66, "Der letzte Mensch" mit Franz Münteferings "mobilem Kritik-Service" (Münte hatte sich kurz zuvor die eigene Partei zur Brust genommen), u.a. zum israelischen Siedlungsbau: "Häuserbauen geht gar nicht. Hab selber eins gebaut, nur Scherereien. Handwerkerzoff, Fenster vergessen, Pferde im Flur. Das müssen sich auch die Palästinenser nicht gefallen lassen. Wenn mir jüdische Handwerker eine Synagoge mitten ins Badezimmer kacheln, würde ich auch zur Uno gehen. Aber erst mal Raketen drauf!" Oder über "Mutter Müntefering": "Meine Mutter ist zwar schon tot, trotzdem lege ich noch immer jede Woche einen Sack mit Schmutzwäsche auf ihr Grab. Leider fehlt in letzter Zeit die Bereitschaft zur Solidarität mit mir, die Bereitschaft zur Zukunftsfähigkeit für diesen Waschservice."
Schade, dass diese Rubrik in absehbarer Zeit ausläuft!  
- Soeben (August 2023) ist die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen zu Ende gegangen. Und just vor zehn Jahren hieß es in den "Briefen an die Leser":

Das EM-Endspiel, deutsche Fußball-Frauen,
hat es wieder einmal gezeigt: Nicht nur könnt Ihr, im Gegensatz zu den Herren, die entscheidenden Spiele auch gewinnen. Die während der Live-Übertragung des Finales eingeblendete Programmänderung »›Mein Kind will sterben‹ entfällt« hat außerdem bewiesen, daß Ihr auch die Doppelbelastung als Mütter und Knipser ohne Probleme bewältigt.
Chapeau!
Titanic

Schlussgedanke
Eine mediokre bis unterwältigende Ausgabe. Dafür wird das Oktoberheft sensationell gut. Ich freue mich schon drauf, es mir bald wieder zur Hand zu nehmen!

Montag, 28. August 2023

Geheimtipp Sommerkürbis

Ich habe gestern ein Rezept von Yotam Ottolenghi aus dessen Focus-Reihe nachgemacht. An Ottolenghi-Rezepte hatte ich mich bisher selten rangetraut, weil sie oft waghalsige Arbeitsschritte und/oder schwer erhältliche Zutaten erfordern, aber das hier erschien mir simpel genug. Star dieses Gerichts, bei dessen Zubereitung übrigens nichts gekocht werden muss, ist die Zucchini. Ich bin gar kein Zucchini-Fan, doch umflirrt von sommerlichem Aroma-Allerlei macht sie unbestreitbar was her.

Man zerschneide 2 Zucchini in dünne Scheiben und 1 gelbe Paprika in 6 bis 8 Streifen (das Weiße abtrennen). Man belege ein Backblech vollständig mit Backpapier und verteile das Gemüse darauf. 1 EL Olivenöl und 1/4 TL Salz druntermischen. Circa 20 Minuten im Ofen schmoren lassen; die Paprikascheiben sollten schön weich sein und dürfen ruhig ein wenig angeröstet (O-Ton: "leicht verkohlt") sein. Dann alles in eine Schüssel füllen.

Jetzt in einem Schälchen 1 Frühlingszwiebel in dünnen Ringen, 1 Knoblauchzehe (geschält und zerdrückt), 1 TL Grenadine-Sirup, 2 TL Apfelessig und 1/2 TL Zucker vermengen. Ein bisschen durchziehen lassen, nochmals rühren, dann 1 TL Harissa hinzugeben. (Im Originalrezept steht "Rosenharissa". Das habe ich nicht bekommen. Ich nehme an, das ist etwas weniger scharf, denn davon soll man 1 Esslöffel nehmen. Optional kann in diesem Fall 1 rote Chilischote, entkernt und in Scheibchen, zu der Mischung gegeben werden.) Schließlich 2 EL Olivenöl in die Mixtur schütten und alles gut verrühren.

Auf einem großen Pizzateller verteilt man nun 150 g griechischen Joghurt (mit einem guten halben TL gesalzen). Das inzwischen lauwarme Gemüse vermengt man mit 2 EL gehacktem Dill (z.B. aus dem Tiefkühlpäckchen) sowie 1 EL gehackter Petersilie (gerne auch TK) und verteile es auf dem Joghurt. Zuoberst kommt dann die Harissa-Frühlingszwiebel-Masse. Das farbenfrohe Ergebnis wird in die Mitte des Tisches gestellt und macht 2 Personen satt. Als Beilage empfiehlt sich frisch gebackenes Fladenbrot. Wenn man am Ende ein Stück Brot in das Zusammenspiel von Joghurt, Dill und schärflicher roter Soße ditscht, ist das ein wahres Fest!

Samstag, 26. August 2023

Wir begrüßen die neuen Schwellenländer!

Die BRICS-Gruppe hat beschlossen, zum Jahresbeginn 2024 sechs weitere Staaten aufzunehmen. Das ging diese Woche nach dem Gipfeltreffen in Johannesburg durch die Medien. Ich erinnere mich noch daran, wie das ursprüngliche "BRIC" zu "BRICS" wurde, als Südafrika dazukam, und dachte: 'Na, das ist doch eine geschickte Erweiterung des Akronyms.' Ab nächstem Jahr soll die Vereinigung allerdings "BRICS plus" heißen. Schade. Man hätte, finde ich, auch die (englischen) Anfangsbuchstaben der Neumitglieder inkorporieren sollen: A für Argentinien, E für Ägypten, E für Äthiopien, I für den Iran, S für Saudi-Arabien und U für die Vereinigten Arabischen Emirate. Aus diesen elf Buchstaben ließen sich etliche sprechbare Abkürzungen bilden. Ein von mir willkürlich gewählter Anagramm-Generator schlägt u.a. vor:

- BASIECRUISE
- ICE AIRBUSES
- BEAU CRISSIE
- ASCII-EREBUS*
- BICAUSERIES
- SIBERIACUES

und mein Favorit, am besten mit Komma und Ausrufezeichen:

- BECAUSE, IRIS!

* Wie sprecht ihr eigentlich "ASCII" aus? Ich so: "Aas-kii".

Donnerstag, 24. August 2023

Der Siegeszug der Luftklingen

Am 9.2.2012 veröffentlichte ich auf meinem alten Blog diesen kurzen Beitrag mit der Überschrift "Wider die elenden Handtrockner":

Die Meinung, dass Heißluft-Handtrockner des Teufels sind, verfechte ich schon lange. Jetzt habe ich einen längeren Zeitungsartikel zum Thema Händetrocknen gelesen, und darin kamen die Geräte nicht besser weg als der klassische Papiertuchspender. Was dieser nämlich an Müll verursacht, gleichen die Warmluftbläser mit ihrem hohen Energieverbrauch locker aus. Genaue Zahlen liegen leider nicht vor, weil solche Studien oft von Unternehmen gesponsert werden und daher dem Verdacht unterliegen, biased zu sein. Hygieneexperten empfehlen jedenfalls Tücher, weil beim mechanischen Abtrocknen noch Restschmutz entfernt wird. Die elektronischen Lufttrockner sind dagegen echte Keimschleudern bzw. -wirbel. Und wie lange es dauert, bis der Sensor reagiert! Und dann gehen sie oft nach kurzer Zeit wieder aus, so dass man erneut wie ein Irrer davor herumfuchtelt!

Das dollste neue Ding ist allerdings der Dyson Airblade, ein Kasten, in den man links und rechts seine Hände einführt*, die dann von "Luftklingen" getrocknet werden: Das Wasser wird von Druckluft weggedroschen! Die Teile sind extrem laut, allerdings soll es auch nur 10 Sekunden dauern, bis die Hände trocken sind. Bei den alten Gebläsen braucht man 60 Sekunden, und wirklich leise sind die auch nicht gerade.

* Nachtrag 2023: Das hatte ich mir wohl falsch gemerkt. Selbstverständlich führt man die Hände von oben ein. 

Elfeinhalb Jahre später hat sich der Airblade flächendeckend durchgesetzt. Er ist sicher noch nicht die am häufigsten anzutreffende Handtrocknungslösung in öffentlichen Bedürfnisanstalten (ich müsste mal eine private Erhebung durchführen), aber er ist inzwischen ein vertrautes Bild. Dabei erinnere ich mich daran, dass es vor einiger Zeit einen Backlash gab, als nämlich Bedenken hinsichtlich der Hygiene laut wurden. Google sagt: Das Jahr 2016 war es, in welchem mehrere Artikel desselben Tenors erschienen. "Angeblich filtere der Händetrockner 99,9 Prozent aller Bakterien aus der Luft heraus, die er mit großem Druck ausstößt. Doch eine neue Studie der University of Westminster scheint das genaue Gegenteil zu belegen: Bei sogenannten Jet-Händetrocknern wie dem Dyson Airblade handelt es sich offenbar um wahre Bakterienschleudern." (Yahoo Nachrichten, 18.4.2016) Die Rheinische Post wusste am 14.4. zu vermelden: "Das [Trocknen mit Düsenhandtrocknern] geht zwar besonders schnell, ist aber nicht immer besonders gesund. Denn nicht nur die Feuchtigkeit wird von den Händen gepustet, sondern auch Bakterien in den Raum. Das zeigt eine aktuelle Studie, die im 'Journal of Microbiology' veröffentlicht wurde. Insbesondere ein Gerät fiel den Wissenschaftlern dabei auf: der Dyson Airblade. Der Handtrockner versprühte im Test 60-mal mehr Bakterien als herkömmliche Geräte — und bis zu 1300-mal mehr Keime, als bei der Nutzung von Papiertüchern durch die Luft gewirbelt werden."

Tja, derartige Erkenntnisse haben dem Siegeszug der Luftklingen nichts anhaben können, und das trotz einer zwischenzeitlichen Pandemie, wo die Gesellschaft auf die Vermeidung von Krankheitserreger-Aufwirbelungen besonders erpicht war bzw. hätte sein sollen. Ich hand(!)habe es so: Wo immer es die Wahl zwischen Airblade und Papiertuchspender gibt, entscheide ich mich für Letzteren. Der hat nämlich noch einen Vorteil gegenüber allen föhnartigen Geräten, den ich damals gar nicht angeführt hatte: Mit Papier kann man sich auch den Mund oder das ganze Gesicht abtrocknen, wenn man sich, etwa in einem Restaurant, das Schnütchen waschen oder sich die Wangen erfrischen möchte. Unter einen Heißlufttrockner hält man seinen Kopf gewiss nicht, und in einen Dyson Airblade passt er gar nicht erst rein, so dass man im Zweifel eine Weile mit klatschnasser Visage rumlaufen muss, nachdem man diese aus welchen Gründen auch immer benetzt hat.

Dienstag, 22. August 2023

Künstliche Köche verderben den Brei

Ich sehe einer Zukunft, in der KI eine immer größere Rolle spielt, inzwischen gelassener entgegen als noch vor einem halben Jahr. Vor einem Jahr hätte ich vielleicht noch "einer von KI dominierten Zukunft" geschrieben. Seien wir ehrlich: Gerade jene Branchen, deren feindliche Übernahme durch ChatGPT & Co. am vehementesten behauptet wird, scheinen mir derzeit auffallend ungefährdet zu sein. Wie ich in der Vergangenheit mehrfach gezeigt habe, ist das Erzeugen von Gebrauchstexten zwar simpel wie nie, die Ergebnisse sind aber, gerade im journalistischen Bereich, oft von bescheidener Qualität. Klar kannst du in Windeseile mit ein paar Prompts einen Blogbeitrag erstellen, der es von der Entropie her mit einem durchschnittlichen Wikipedia-Artikel aufnehmen kann, stilistisch wird er aber selten über das Niveau eines solchen hinausgehen, davon abgesehen, dass am Ende immer noch faktische Fehler und Unstimmigkeiten enthalten sein werden. Kurzer Besuch der Reiseseite, die ich hier schon einmal hinsichtlich groben Chatbot-Einsatzes begutachtet habe:

Die besten Discos/Clubs der Welt
Es gibt keine eindeutige Liste der 20 besten Discos der Welt, da dies stark von persönlichen Vorlieben und aktuellen Trends abhängt. Es gibt jedoch einige bekannte und beliebte Discos weltweit, wie zum Beispiel das

  •   Europa:Berghain in Berlin, das Pacha in Ibiza, das Fabric in London
  •   Asien das Zouk in Singapur

[...]
Es gibt auch viele andere großartige Discos auf der ganzen Welt, die je nach Musikstil und Atmosphäre unterschiedliche Erfahrungen bieten. Es ist wichtig zu beachten, dass sich die Clubszene in Asien ständig weiterentwickelt und neue Discos eröffnen können,

Peinlich. Wenn fürderhin jemand orakelt, semi-professionelle und leidenschaftliche Reiseblogger könnten ihr Hobby demnächst an den Nagel hängen, weil neue, mit Hilfe von Sprachmodellen generierte Angebote ihnen die Reichweite wegnehmen, dann lache ich mir 'nen Ast.

Kaum bedroht sehe ich auch die Arbeit von Kochbuch-Autor(inn)en. Ich beanstande im Folgenden nicht die Möglichkeit an sich, Gerichte von Künstlicher Intelligenz "erfinden" zu lassen. Die Verbandelung von Kulinarik und moderner Informatik kann ein witziges Experiment sein. Ich beziehe mich explizit auf Rezeptsammlungen: Jeder, der seine sieben Zwetschgen beisammen hat, wird ein klassisches, mit Herzblut kompiliertes und mit Könne designtes Kochbuch jenem Schmarrn vorziehen, den beispielsweise das in Dänemark ansässige Unternehmen Magic Media zum Preis von 5,95 $ (!) pro PDF vertreibt.

"Taste of Vanuatu": "A Journey Through the Island’s Cuisine! Delicious Island Fare" und "A Collection of Vanuatu Recipes" versprach eine Kollektion von 25 Rezepten. Das interessierte mich natürlich, denn über Vanuatu weiß ich nur wenig, und Inspirationen für den eigenen Herd entdecke ich immer gern. Vorab: Ich vermag nicht zu sagen, ob die Gerichte tatsächlich existieren. Sie lesen sich mach- und essbar und einigermaßen pazifiktypisch; zusammengestellt hat sie ausweislich des Impressums ein "David Bule", über den man im gesamten Internet nichts findet. Die Illustrationen stammen von "Paramte Poompuang", und den oder die gibt es nun, zumindest laut Google, gar nicht. Vermutlich wird das von Magic Media verwendete Bildgenerierungs-Tool intern so genannt, und was das ausspuckt, bewegt sich irgendwo zwischen aberwitzig und uncanny.


Das schaut ja erst einmal nicht sooo unrealistisch aus, aber man beachte bitte die Hände!


Ich würde so ein leicht schräges Essensbild als auflockerndes Flavour-Element durchgehen lassen, wären nicht auch die "Fotos" der einzelnen Gerichte teilweise extrem daneben. Dabei sieht manches sogar recht schmackhaft und präsentabel aus, etwa der Coconut Cream Fish:


Die Darstellung von Tuluk zum Beispiel könnte indes gar nicht weiter von der Wirklichkeit abweichen.


Regelrecht verstörend wird es bei Suppen und Desserts:


Ich glaube, das hier sind meine Favoriten: Lobster Mornay und Bananenkuchen. The horror, the horror!

 

Es ist offensichtlich, dass die KI-Resultate nicht nur nicht nachbearbeitet, sondern nicht einmal angesehen wurden. Ein geistig gesunder Mensch wird doch unmöglich einen Blick auf die obige Monstrosität werfen und denken: 'Jepp, das ist Banana Cake, wie wir ihn kennen und schätzen!'

Dass die "Redaktion" hier einfach alles, was der Rechner ausspuckt, reinlaufen lässt, zeigt sich auch bei den Texten. Fast alle Beschreibungen beginnen mit irgendeiner Variation von "XY is a traditional dish from Vanuatu, an island nation in the South Pacific". Der Rest: lieblos, unpersönlich, lahm. Das ist Schrott, Dreck, Ausschuss, und mir tun alle leid, die fast sechs Dollar (welcher Dollar eigentlich?) dafür ausgegeben haben.

Ich könnte an dieser Stelle noch etliche weitere Beispiele aus Publikationen wie "Taste of USA Vegetarian" oder "Taste of Argentina" zeigen, nach denen ihr euch alle siebzehn Finger lecken würdet. Besonders albtraumhaft ist "Taste of Germany" für stolze 11,95 $ (dafür aber auch mit 112 Seiten Umfang), wo wirklich keine Illustration zum Rezept passt. Okay, eins muss ich euch zeigen: den süddeutschen Klassiker Leberkäse. Und vielleicht eine nicht-euklidische Brezel dazu?


Ich wiederhole mich nur ungern, aber: Wenn noch irgendwer schnattert, dass die schreibende und buchgestaltende Zunft in Bälde nichts mehr zu lachen habe, dann lache ich erst richtig.

"Babe, are you ok? You've barely touched your Milanese carried by a thousand maggots."