Folgende Wörter waren in den vergangenen Monaten in der BILD-Zeitung bzw. auf bild.de zu finden:
- Herzlos-Vermieter
- Billig-Mini
- Gemein-Wurf
- Nackt-Ukrainerinnen
- Brutal-Attacke
- Peinlich-Auftritt
- Schrill-Outfit
Ihnen gemein ist eine besondere Bildungsweise, die im Deutschen so gut wie nicht vorkommt. All diese Komposita (= zusammengesetzte Wörter) bestehen aus einem Adjektiv und einem Substantiv, wobei ersteres das zweitere näher bestimmt: Ein "Herzlos-Vermieter" ist ein herzloser Vermieter, ein "Peinlich-Auftritt" ist ein peinlicher Auftritt.
Ich habe geschrieben, dass diese Wortbildungsart so gut wie nicht vorkommt - einige Ausnahmen gibt es natürlich. Der "Freistaat" etwa ist ein freier Staat, ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert; ein "Schnellschuss" ist ein schneller Schuss, wird aber heute meist als Metapher ohne direkten Bezug auf das Schießen von Bällen oder Projektilen verwendet ("Nowotny gegen Schnellschuss bei Euro-Bonds"; derStandard.at, 18.08.2011). Man denke auch an "Starkbier", "Schnellzug", "Engpass", "Kurzgeschichte" oder "Heimlich-Manöver" (kleiner Scherz). Eine etwas größere Gruppe dieser Komposita kommt aus dem Tier- und Pflanzenreich, wobei oft ein Farbadjektiv das Erstglied ist: Braunbär, Blaualge, Gelbkiefer, Faultier, Kleinpferd.
Hiervon abzutrennen sind Wortbildungsprodukte nach dem Muster "Langohr", "Dummkopf", "Rotkäppchen" oder "Plattnase". Im Gegensatz zu den oben genannten Wörtern ist hier nämlich nicht das Zweitglied das Bezeichnete, sondern ein "außenstehendes" Subjekt, für welches das, was durch das Kompositum ausgedrückt wird, charakteristisch ist. "Langohr" bedeutet eben nicht "langes Ohr", sondern "Träger von langen Ohren", nämlich eine Fledermausart. "Rotkäppchen" heißt nicht der Kopfschmuck, sondern das Mädchen mit dem roten Käppchen. Solche exozentrischen Zusammensetzungen heißen Possessivkomposita oder auch, bevorzugt in der Vergleichenden Sprachwissenschaft, Bahuvrīhi (von altindisch "Vielreis" --> "jmd., der viel Reis hat").
Nun stellt sich die Frage, wie man Wörter à la "Nackt-Cowboy" (bild.de, 27.09.11) in der Sprachwissenschaft nennt. Wieder einmal helfen uns hier die alten Inder weiter. Die hatten für solche Komposita nämlich einen grammatikalischen Fachausdruck: Karmadhāraya ("Werk/Karma tragend"). Das wohl bekannteste Beispiel für ein Karmadhāraya ist mahārāja - "Großkönig"/"großer König". Weitere Vertreter: suputra "guter Sohn", nīlotpala "blauer Lotus", kṛṣṇaśakuni "schwarzer Vogel". In den gängigen Sanskrit-Lehrbüchern werden Karmadhārayas oft "appositionellbestimmte Komposita" genannt. Es ist ein einleuchtendes Verfahren der Wortschatzerweiterung. Und auch wenn die Beispiele aus der BILD nicht unbedingt die Krönung sprachlicher Ästhetik sind und als Ad-hoc-Bildungen geringe Chancen haben, irgendwann im Duden zu landen, kann man ihren Erfindern nicht den Vorwurf der "Sprachpanscherei" machen, allenfalls den, auf jahrtausendealte Wortbildungsmuster zurückgegriffen zu haben.
PS: Ganz verrückt wird es bei "Nackt-Beichte" (BILD) und "Schwanger-Glück" (Bunte): Es ist nämlich nicht eine nackte Beichte gemeint, sondern eine Beichte über ein vorangegangenes Nackigsein, und auch kein "schwangeres Glück", sondern das Glück über eine Schwangerschaft.
PPS: Vor ein paar Tagen erschien mir das Wort karmadhāraya tatsächlich als Captcha auf einer Filehoster-Seite. Unheimlich?