Mittwoch, 31. August 2022

TITANIC vor zehn Jahren: 9/2012

Heute vor zehn Jahren erschien Heft 395, und anscheinend gab es damals eine Organspende-Debatte:


Ja, hm, mein Lieblingstitel ist das nicht. Merkel erlangte, obwohl es über die Jahre hinweg einige mehr oder weniger bedeutungsfreie Quatschtitel mit ihr gab, nie den Status von Helmut Kohl, der spätestens ab 1992 (elf von zwölf Covern zeigten den Kanzler) zur gänzlich entpolitisierten Blaupause verkommen war: Aktuelles Thema + Kohl = lustiger Titel, das war die simple Titanic-Erfolgsformel, die mit dem Summanden Merkel nicht recht funktionieren wollte – und nachdem Merkel zur ultimativen Hassfigur der Rechten wurde, rückblickend noch schlechter funktioniert. Damit will ich nicht sagen, dass Gags, die mit der menschlichen bzw. tapsig-niedlichen Seite des Machtmenschen Merkel spielen, überhaupt nicht zünden; es folgten noch mehrere sehr gelungene, wie wir in zukünftigen Ausgaben dieser Reihe sehen werden.

Der Aufmacher der September-Ausgabe war eine Telefonaktion, die ich völlig vergessen hatte, obwohl ich daran beteiligt gewesen war. Als gemeinnütziger Verein "Der kleine Finger" riefen wir bei Adeligen und (mutmaßlichen) Millionären im Lande an, um sie für karikative Einsätze zu gewinnen ("Jungkriminelle könnten sich mal auf Ihrem Rittergut einen schönen Tag machen"), als alternatives Angebot zur seinerzeit diskutierten "Reichensteuer". Wie zahlreiche Anruf-Aktionen der Post-Sonneborn-Ära war sie nur mäßig erfolgreich und fiel auch vom Seitenumfang her recht dünn aus.

Ein feiner Spaß hingegen war der selbstgeschossene Fotoroman "Bis(s) zum Scheidungsprozess". Anlass: "Robert Pattinson und seine Freundin Kirsten – Hollywoods schönstes Vampirpaar steht vor dem Pflöckel-Aus!" Die Produktion dieser Fotostory mündete in einem der sehr raren Momente, in denen ich Michael Ziegelwagner wütend erlebt habe: Sich in einem Hundekostüm mit Windel auf einem gut besuchten Kinderspielplatz ablichten zu lassen, war der Demütigung dann doch zu viel.


Die weibliche Hauptrolle spielte unsere Praktikantin Hatun, welche überhaupt in diesem Monat heavily featured wurde und viele tolle Ideen beizusteuern hatte. Unter anderem ersann sie die Doppelseite "Die Parteien aus Sicht der Parteien", die sich in Posterform zu einem veritablen Verkaufsschlager auswuchs.


Den unschätzbaren Wert der Titanic als Chronistin sieht man an vielen Stellen, herausgreifen möchte ich exemplarisch Mark-Stefan Tietzes Artikel über Bubble Tea, allein wegen des sensationellen Visualizings:


Bemerkenswert, dass die Bubble-Blase kurz nach der Hochphase im Sommer 2012 platzte (auch wenn die medial aufgebauschte Erstickungsgefahr dabei nur ein untergeordneter Faktor war), nur um ein paar Jahre später neu aufzusteigen. In den meisten Städten, obschon nicht an jeder Ecke, kriegt man den fernöstlichen Spezialtee heutzutage wieder.

Ein Blick in "55ff" lässt mich lachen, habe ich doch bereits in der gerade mal zweiten Folge die Meta-Schraube gleich dreimal überdreht. Neben einem Editorial, in dem angekündigt wird, dass in dieser Rubrik "ab sofort alles anders" ist, "aber gleichzeitig so gemütlich und ehrlich, wie Sie es von uns gewohnt sind", finden sich auch noch diese Kästen, deren Humor sich bestimmt nicht jedem erschlossen hat:



Apropos Rubrik: "Das neue deutsche Volkslied" feiert Premiere! In der Einleitung heißt es: "Während einer Redaktionswanderung durch den Taunus wurde klar: Kaum einer unserer Jahrgänge kennt noch deutsches Liedgut." Das stimmt! Jene Wanderung unternahmen Leo Fischer, Birgit Staniewski und ich, und bei ebenjenem Gespräch über deutsches Liedgut schlug Birgit vor, ihren alten Freund Simon Borowiak zu fragen, sich doch mal neue Volkslieder auszudenken, die dann exklusiv in Titanic erscheinen könnten. Das tat er, und für die Vertonung konnte er den preisgekrönten Komponisten Moritz Eggert gewinnen. Ja, diese Reihe war was für Genießer.


Weiteres Notierenswertes
- Das war die Phase, in der Kamagurka seine Werke gemeinsam mit Pedro, einem Assistenten oder Zeichenpartner oder was, anfertigte, sie waren mit "von (K) und (P)" überschrieben. Übrigens liefert Kamagurkas Büro die Cartoonvorschläge stets digital und in englischer Sprache an Titanic. (Flämisch sieht zwar ulkiger aus, wird aber von niemandem verstanden.) Nach der Auswahl der Cartoons werden die Texte ins Deutsche übersetzt (zurzeit übernimmt das Chefredakteur Hürtgen, damals fiel diese Aufgabe oft mir zu) und an Kama geschickt, der sie dann neu lettert.
- Ungewöhnlich: Ein Gedicht von Dietmar Dath in der Humorkritik.

Schlussgedanke
Keine legendäre Nummer, aber schön abwechslungsreich und wie immer ein lehrreiches Zeitdokument.

Dienstag, 30. August 2022

Die Kybersetzung-Top-10

Mir war nicht entgangen, dass in der Blogger-Oberfläche die Suchanfragen, die auf mein Blog führen, nicht mehr angezeigt werden. Lediglich "Sonstiges" steht an der entsprechenden Stelle seit einer Weile. Richtig in mein Bewusstsein gedrungen ist mir dieser Umstand erst, als mich Kollege Lugauer darauf ansprach. Schade, denn es war nicht selten ein Quell des Juxes, zu lesen, was die Leute, die hier landen, so alles in ihre Google-Eingabefelder getippt haben. Mit neuen verstörenden Suchbegriffen kann ich also fürderhin nicht mehr dienen, als Kompensation zeige ich hier die Kybersetzung-Top-10: die zehn am häufigsten aufgerufenen Beiträge.

Sonntag, 28. August 2022

Der Sommer unseres Fahrvergnügens

Ausnahmsweise muss ich ein aktuelles Thema behandeln. Es ist mir ein Bedürfnis, für die Nachwelt festzuhalten, dass es vom 1. Juni bis zum 31. August 2022 in Deutschland etwas gab, das man als erfreulich bezeichnen konnte. Ja, in der Tat, es war das erste und einzige Schöne seit circa fünf Jahren: das 9-Euro-Ticket. Man durfte für nur 9,- € im Monat bundesweit den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Was für ein Luxus, eine Erleichterung, ein Gewinn! Nicht nur, dass man die eigene Region mal richtig er-fahren konnte, man konnte auch weiter auseinander liegende Städte mit dem Regionalexpress als Alternative zu IC, ICE & Co. erreichen, sofern man sich etwas Zeit nahm und ein dickes Fell hatte. Dresden-Frankfurt? 8 Stunden, ja mei. Kostenlos auf die Documenta in Kassel fahren? Easy-peasy, hab ich gemacht. Angenehm war es auch, am Zielort aussteigen und einfach mit der örtlichen Tram oder mit dem Bus weiterfahren zu können, ohne sich mit Tarifzonen befassen oder ständig Kleingeld für Fahrkartenautomaten dabei haben zu müssen. Ich fühlte mich an die goldenen zwei Jahre, in denen ich eine BahnCard 100 besaß, zurückversetzt.

Das 9-Euro-Ticket machte Lust aufs Reisen im eigenen Land, es brachte Menschen nach draußen, die sonst kaum Anreize dazu haben, ermöglichte, kurzum, Teilhabe, zudem entlastete es die Umwelt und den Straßenverkehr, stellte einen leichten Puffer angesichts der kriegsbedingten Energiepreisexplosion dar, stieß Diskussionen an, stellte potenzielle Weichen für weitere Elektrifizierungs-Innovationen, die Deutsche Bahn und das Umweltbundesamt zogen eine positive Bilanz ... Unnötig zu erwähnen, dass die Politik das 9-Euro-Ticket nicht verlängern wird. Als Hauptargument wird dabei der – nicht zu verschweigende! – Fakt ins Feld geführt, dass der Zugverkehr in diesem Sommer an seine Grenzen kam. Überfüllte Wagen, Verspätungen und sonstiges Chaos waren permanente Begleiter der Niedrigpreisaktion. Doch daraus ziehen die meisten Regierenden nun nicht den Schluss, dass man halt großzügig (!) Kohle (!) in den Ausbau von Personal und Schienennetz zu stecken hat, so wie es ja auch mir nichts, dir nichts mit der Bundeswehraufrüstung möglich war. Nein: Strohmannargumente werden bemüht ("Menschen, die aufs Auto angewiesen sind, würden ungefragt ein Ticket, das sie nicht nutzen, mitsubventionieren"), freidemokratische Widerlinge sprechen gar von "Gratismentalität", und überhaupt dürfe man das System nicht von heute auf morgen an seine Belastungsgrenze bringen, was übersetzt heißt, dass man weiterhin einen Teil der Gemeinschaft von der regelmäßigen Bahnnutzung ausschließen muss, indem man die Preise mindestens knapp über deren Budget hält. Da kann man froh sein, dass beispielsweise Bildung und Gesundheitsversorgung als Grundrechte gelten, sonst würde man womöglich morgen das kostenlose Studium abschaffen ("damit die Hörsäle nicht überfüllt sind") und übermorgen den freien Zugang zu ärztlicher Behandlung ("damit nicht Hinz und Kunz wegen jedem Wehwehchen die Praxen einrennen"). Notabene: Ältere erinnern sich, dass es eine Weile in Deutschland eine sog. Praxisgebühr gab und in einigen Bundesländern Studiengebühren anfielen. Die rechtlichen Grundlagen dafür müsste ich gesondert nachzuvollziehen versuchen, aber solange derlei möglich ist, dürfte es schwierig sein, aus der Verfassung ein Grundrecht auf Mobilität abzuleiten, egal welche Parteien gerade an der Macht sind.

Aber es gibt Hoffnungsschimmer. Berlin hat eine zunächst dreimonatige Neun-Euro-Fortsetzung ab Oktober angekündigt (wenn auch nur für Berlin). Ein bundesweit geltendes 29-Euro-Angebot ist im Gespräch, was ich ohne zu zögern annehmen würde. Bei 69 Euro, eine weitere oft genannte Summe, wäre ich schon nicht mehr dabei. Was auch immer kommen mag: Die glücklichen Erinnerungen an den Sommer unseres Fahrvergnügens wird uns niemand nehmen können.

Freitag, 26. August 2022

Gesundes aus dem Süden

Hach, die USA: das Land, in dem Pizza als Gemüse zählt und einem Obstsalat in rauen Mengen Fett und Zucker beigefügt werden muss, damit die Vitaminlast ja nicht zu hoch ausfällt. Dumme Klischees? Mag sein. Und dass ich eine tiefe Sympathie für good old American Gönnung hege, sollte eh bekannt sein. Bei meiner Beschäftigung mit klassischer Südstaatenküche bin ich auf ein Rezept gestoßen, das mich gleichzeitig lachen und mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ich habe mit meiner Bemerkung über Obstsalate keinen Witz gemacht. In diesen Sommersalat kommt Schlagsahne und Schaumzucker rein, dass es eine Art hat, und das Ergebnis ist pure Lust. Aber der Reihe nach!

Wir zerhacken (z.B. mit dem Thermomix) eine Tasse geröstete Pecannüsse. Dann schlagen wir einen Becher Sahne auf. Wörtlich ist von heavy whipping cream die Rede, also Schlagrahm mit einem Fettgehalt von über 35 %; die findet man hierzulande leider ebenso schwer wie Crème double (die ich schon mehr als einmal gebraucht hätte). Die Sahne sollen wir zusammen mit einer Viertel Tasse Zucker schlagen. Ich habe ca. 40 Gramm genommen, würde aber behaupten, wegen der Süße all dessen, was noch kommt, kann man auf den Zucker ganz verzichten. Ist die gewünschte Steifheit erreicht, hebt man einen Becher Sauerrahm unter.

In eine Salatschüssel kommen jetzt: eine Schale Erdbeeren (geviertelt), eine Schale Blaubeeren, zwei Tassen kernlose helle Trauben (halbiert), 1 Tasse Mini-Marshmallows, 1/2 Tasse Kokosraspeln sowie die zerkleinerten Nüsse. Alles vermischen und behutsam die Rahmmasse untermengen. Eine halbe Stunde kaltstellen. Bei den Mengenangaben bin ich bewusst vage geblieben; ich schätze mal, bei mir sind insgesamt etwas über ein Kilogramm Beeren zusammengekommen, man kann da sicher variieren.

Mittwoch, 24. August 2022

Skogens Dyp

Ein Hobby, das man gut alleine ausüben kann, ist auf Konzerte gehen. Ich habe schon mehrmals ohne Begleitung Auftritte von mehr oder weniger obskuren Bands besucht, weil sich einfach niemand gefunden hat, der meinen abseitigen exquisiten Musikgeschmack teilt. (Am Ende dieses Beitrags werde ich auf geniale Weise einen Bogen zu extremer Musik schlagen!)

Was auch gut "geht" als Einzeldisziplin: Wandern. Versteht mich nicht falsch, ich erkunde gerne und regelmäßig in Gesellschaft die heimische Natur, bin kein eigenbrötlerischer Waldschrat, aber Solo-Wandern hat den Vorteil, dass man dabei Podcasts hören und/oder seinen Gedanken einmal freien Lauf lassen kann. Hinzu kommt in meinem Fall, dass ich nicht mit dem besten Orientierungssinn ausgestattet bin. Mehr als einmal schon musste ich meiner Begleitung schamvoll gestehen, dass ich bei der letzten Gabelung die falsche Entscheidung getroffen habe und wir jetzt leider 30 Minuten retour stapfen müssen ... Bin ich allein, kann's mir wurst sein; ich bin nur für mich verantwortlich.

So frustrierend es sein mag, sich zu verlaufen, so folgenlos ist es doch hierzulande in der Regel. Wir sind ja nicht in Amerika, wo man bei Unachtsamkeit durchaus fernab jeglicher Besiedlung und Wegenetze landen kann. Oder wo jährlich massenhaft Menschen in Nationalparks verschwinden. Wo man sich in Todeswüsten, Bärenrevieren oder Hexendickicht verliert. Nicht von ungefähr kommen die unzähligen Filme, in denen der verführerische Ruf der Wildnis zum Verhängnis wird: die Antithese zur Zivilisation, das ungebändigte "Da draußen" als tückische Falle für Erholung und Zerstreuung Suchende. Wer in Deutschland vom Weg abkommt, findet trotzdem zuverlässig irgendeine Straße, bevor die Sonne untergeht ... hatte ich bis zum Februar 2021 zumindest gedacht. Seitdem weiß ich: Sollte es eine Region in Hessen geben, wo getting lost wie im Horrorfilm möglich ist, dann der Burgwald. Behaupte ich einfach mal.


Meine erwähnte miese Orientierung wurde mir angesichts der Wildheit dieses Ortes zum Verhängnis. Okay, "Verhängnis" ist ein dramatisches Wort, aber zwischenzeitlich wurde es mir doch etwas mulmig zumute. Die Hauptschuld an meinem immer fataleren Abdriften von der Route schiebe ich auf die Wegbeschreibung der FAZ, die nicht nur konfus wie gewohnt war, sondern auch einen faktischen Fehler in der beigefügten Karte enthielt: Zu 95 % bin ich mir sicher, dass der zu gehende Pfad an der verkehrten Seite der Wetschaft eingezeichnet war. So landete ich beizeiten an einem Pfad, der vom Forstamt für die Öffentlichkeit gesperrt worden war. Brav kehrte ich um, nahm einen Umweg und stand bald vor einem weiteren "Durchgang verboten"-Schild samt Flatterband. (Dazu ist noch anzumerken, dass die FAZ-Wanderbeschreibung ein paar Jahre alt war. Auf die behördlichen Einschränkungen und die ihnen zugrunde liegenden Gefahren wurde in dem Text folglich nicht eingegangen.) Nun wurde ich zu gleichen Teilen kopflos und übermütig. Ich stieg über die Absperrung und schritt voran, aufpassend, dass ich nicht von einem fallenden Baum erschlagen würde. Nach einer Weile stand ich vor einem Abschnitt, der überschwemmt war, denn das Tauen immenser Schneemassen hatte kurz zuvor eingesetzt.


Ich schlug mich durch eine Böschung, überwand Eis und Schlamm. Während der gesamten Unternehmung traf ich auf keine Menschenseele. Ein Schutzhäuschen namens Wasserberghütte, das ich irgendwann passierte, war verschlossen und strahlte eine so gespenstische Verwaistheit aus, dass ich mich dort keine Minute aufhalten mochte.


Wegweiser zeigten in Richtungen, in die ich gar nicht wollte. Ich wollte nur nach Hause, oder wenigstens in einen der angrenzenden Orte (Münchhausen, Roda)! Ich schien wieder die Frostgrenze überschritten zu haben, als es anfing zu dämmern.


Als dann auch noch meinem MP3-Player der Saft ausging, konnte ich nicht mal mehr mit "Overthinking It" & Co. meine aufsteigende Panik in Zaum halten. Den Akku meines Smartphones wollte ich schonen, zumal ich ohnehin nichts hätte streamen können, da in dem ganzen Gebiet kein Mobilnetz verfügbar ist. Auf Google Maps war ich ein winziger Punkt im Nirgendwo. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wie ich es schließlich nach Münchhausen schaffte. Dort hatte ich jedenfalls wieder genug Internet, um die Abfahrtszeit der nächsten (letzten?) Regionalbahn zu ermitteln: Sie war sehr nah! Wie mit dem Beelzebub im Nacken sprintete ich zum Bahnhof. Ein alter Herr rief mir entgegen: "Naa, immä mit dä Ruh, nur net hetze!" Hechelnd saß ich kurz darauf in einem wärmenden Zug und fuhr durch klirrende, pechschwarze Winterlandschaften nach Frankfurt zurück.

Diese Episode erinnerte mich später an ein außergewöhnliches Buch, das ich mir 2013 bestellte, nachdem es Dietmar Dath in der FAZ besprochen hatte: "Skogtatt" von Ulrike Serowy. Mit stimmungsvollen Illustrationen von Faith Coloccia angereichert, ist diese bibliophile Rarität "der Versuch, extreme Musik in Worte zu kleiden", nämlich Black Metal in eine (zweisprachige) Kurzgeschichte. Und nach diesem Abenteuer im Burgwald konnte ich mich in die Hauptfigur hineinversetzen. "Er fiel", heißt es am Ende. "Blieb liegen Das Gesicht im Schnee So schwer fällt das Atmen Und dann kam die Wärme in ihn". Ja, wie Terje Bakken, der Frontmann von Windir, der 2004 viel zu jung in einem Schneesturm erfroren ist, hätte ich enden können. Ihm sowie allen Verirrten, die in den norwegischen oder anderen Wäldern ihr Leben ließen, ist dieser Beitrag gewidmet.

Montag, 22. August 2022

Von Sachsen- und Wasserspiegeln

In dem antiquarisch erstandenen Lehrbuch Deutsche Rechtsgeschichte von 1954 (das hier in Zukunft noch eine Rolle spielen wird) las ich in Bezug auf den Sachsenspiegel, das wichtigste deutsche Rechtsbuch des Spätmittelalters: "Noch 1933 zitierte ihn das Reichsgericht".

'Oho, sieh an, das ist ja höchst interessant', dachte ich, und direkt darauf: 'Ob es auch noch Gerichtsentscheidungen nach Erscheinen dieses Fachbuches gab, in denen sich auf den Sachsenspiegel berufen wurde?' Im Handumdrehen war herauszufinden, dass es mindestens eine solche gibt, nämlich eine Bundesgerichtshof-Sache von 1989 (Az. III ZR 266/87)! Geklagt hatte damals das Land Schleswig-Holstein gegen die Bundesrepublik Deutschland; geklärt werden sollten "die eigentumsrechtlichen Verhältnisse bestimmter Land- und Wasserflächen im Bereich des Auslaufs der Kossau aus dem Großen Binnensee in die Ostsee (Hohwachter Bucht)". Wer die vertrackte Causa, in der es um Molenausbau, Wasserstraßen und Hafenverkäufe geht, nachzuvollziehen versuchen möchte, kann hier das Urteil einsehen. Ich beschränke mich darauf, den Satz zu zitieren, mit welchem die Stellung der genannten historischen Quelle bekräftigt wird: "Der als Landesrecht mit Vorrang vor dem Gemeinen Recht anzuwendende Sachsenspiegel bestimmt über das Meeresufer nichts". Okay, weitergeholfen hat es offenbar nicht, aber dass der Senat neben der Weimarer Reichsverfassung, dem Staatsvertrag von 1921 und dem preußischen Wassergesetz auch einen Text, der zwischen 1215 und 1235 entstanden ist, konsultiert hat, finde ich faszinierend.

Samstag, 20. August 2022

Das ist ja schleierlingshaft!

Der britische Schriftsteller Nicholas Evans (Der Pferdeflüsterer) ist gestorben, mit 72, an einem Herzinfarkt. Gewiss bedauerlich genug, aber: er hätte auch schon mehr als zehn Jahre tot sein können. "Im September 2008", weiß Wikipedia, "zogen sich Evans und seine Frau durch den Genuss eines Pilzgerichts mit Spitzgebuckelten Rauköpfen schwere Vergiftungen zu. Als Spätfolge wurde ihm 2011 eine Niere seiner Tochter transplantiert."

Der Spitzgebuckelte Raukopf (Cortinarius rubellus) gehört zu den Schleierlingsverwandten, einer Familie, innerhalb derer es mehrere potenziell tödliche Arten gibt. Die Tintling-Herausgeberin Karin Montag widmet ihnen in ihrem monumentalen Pilz-Kompendium "Cook mal Pilze!" ein eigenes Kapitel mit der Überschrift "Der geht einem an die Nieren". Auszug: "In den siebziger Jahren erlitten drei Schottland-Urlauber eine Vergiftung, weil sie [den Spitzgebuckelten] Raukopf mit Pfifferlingen verwechselten. Bei zweien kam es zu einem völligen Versagen der Nierenfunktion, so daß neun Monate nach der Mahlzeit bei beiden Patienten eine Nierentransplantation durchgeführt werden mußte." Auch Nicholas Evans und seine Frau hatten diesen Pilz in Schottland gefunden, der tatsächlich eine äußere Ähnlichkeit mit dem Pfifferling aufweist. Er ist über ganz Europa verbreitet, hierzulande kommt er beispielsweise im Schwarzwald vor. Sein englischer Name ist übrigens Deadly Webcap, während sein französischer Cortinaire très élégant lautet.

Noch gefährlicher als der Spitzgebuckelte ist der Orangefuchsige Raukopf. Wie ersterer enthält dieser, nur in anderer Form, den Giftstoff Orellanin, worauf schon seine lateinische Bezeichnung C. orellanus hinweist. Das von diesem Nephrotoxin ausgelöste Orellanus-Syndrom gilt als "besonders langsam und qualvoll" (Wikipedia). Karin Montag: "Die lange Latenzzeit von 4 - 14 (-17) Tagen macht es oft schwierig, einen Zusammenhang mit einer Pilzmahlzeit herzustellen. [...] Die ersten diffusen Symptome sind unstillbarer Durst mit Mundtrockenheit, Kopfschmerzen, leichtem Fieber und Schüttelfrost sowie vorübergehende Gelenk- und Muskelschmerzen. [...] Danach treten typische Beschwerden auf, die auf eine Nierenschädigung hindeuten: Übelkeit und durch die Urämie verursachtes Erbrechen, Schmerzen in der Lendengegend bzw. in der Lendenwirbelsäule (in der Nierenloge). [...] Bei Beginn der Nierensymptome über 10 - 14 Tage nach der Pilzmahlzeit sind oft eher milde Verläufe zu konstatieren, von denen sich der Patient vollständig erholen kann. Die Therapie erfolgt symptomatisch nach ständiger Überwachung der Nierenfunktion. In vielen Fällen ist vorübergehend oder zeitlebens Hämodialyse angezeigt bzw. eine Nierentransplantation."

C. orellanus ist ein weiteres Beispiel für einen Fall, in dem ein Pilz bis zu einem gewissen Zeitpunkt (hier: 1952) nicht als giftig, sondern als essbar galt. Da wird es einem angst und bange! Mein Ratschlag wäre: Vor jeder Zubereitung selbstgesammelter Schwammerl deutliche Fotos des gesamten Fundes machen, den Zeitpunkt des Verzehrs notieren und in den folgenden Wochen (!) penibel auf den eigenen Körper hören.

Donnerstag, 18. August 2022

Meine zehn zuletzt gesehenen Filme

Beyond the Pole
2010, als das Genre noch nicht so verbraucht war wie heute, lief diese Mockumentary in britischen Kinos – recht erfolgreich, nachdem bereits die Festival-Premiere positive Kritikerstimmen eingeheimst hatte. Dieses Lob mag eine Art von Vorschusslorbeeren gewesen sein, denn dem Film war eine äußerst beliebte Radioreihe der BBC vorausgegangen. Da ich diese nicht kannte, konnte ich mit der Figurenzeichnung und dem Humor nicht ganz so viel anfangen, wie ich gewollt hätte.
Worum geht es? Zwei Freunde (Stephen Mangan, Rhys Thomas) wollen groß rauskommen, indem sie eine Arktis-Expedition unternehmen, die als erste ihrer Art komplett CO2-neutral, vegetarisch und bio sein soll. Mit einer remote arbeitenden Regisseurin (Helen Baxendale) und einem chaotisch betriebenen Ü-Wagen in England an ihrer "Seite" schaffen es die wohlmeinenden, aber komplett unerfahrenen Umwelt-Enthusiasten tatsächlich bis an den Nordpol. Oder doch nicht? Der Dramaturgie einschlägiger Buddykomödien wie auch Über-sich-hinauswachs-Abenteuer folgend, gibt es auf der Reise zermürbende Konflikte, peinliche Überrumpelungen und retardierende Momente. Die Mission zu verfolgen, ist also nicht unspannend (zumal sie tatsächlich im grönländischen Eis gedreht wurde), aber wie gesagt: Ein bisschen mehr Witz hätt's sein dürfen.

The Cursed (aka: Eight for Silver)
Ein in Frankreich gedrehter historischer Werwolf-Grusler des britischen Regisseurs Sean Ellis, der mit einigen modernen Spins aufwartet, der alten "Zigeunerfluch"-Trope etwas Erfrischendes abgewinnt und auch visuell einiges hermacht. Dennoch scheint er mich nur wenig beeindruckt zu haben, immerhin musste ich soeben noch einmal die entsprechenden imdb- und Wikipedia-Seiten durchlesen, um mir die Details ins Gedächtnis zu rufen. Dass Charakterkopf Alistair Petrie trefflich gecastet war, weiß ich noch.

A Most Wanted Man
Philip Seymour Hoffmans letzte Hauptrolle, ach Menno. Man muss leider feststellen, dass diese John-le-Carré-Verfilmung ohne das 2014 verstorbene Jahrhunderttalent bestenfalls Standardkost wäre. Die Handlung – ein sich in Hamburg aufhaltender Tschetschene soll als muslimischer Terrorist überführt werden – lockt einen kaum mehr hinterm Ofen vor, ist aber zumindest aus deutscher Sicht insofern interessant, als ein paar hiesige household names wie Nina Hoss und Rainer Bock in Nebenrollen zu sehen sind.
 

Million Dollar Baby
Zusammen mit dem beim letzten Mal besprochenen "The Mule" war auch Clint Eastwoods vierfacher Oscargewinner von 2004 (über welchen ich erst kürzlich lernte, dass er auf einer Kurzgeschichte basiert) bei Amazon Prime verfügbar, also fasste ich mir ein Herz: Kiekste halt mal einen Boxfilm; immerhin ist das wohl ein moderner Klassiker. Was soll ich sagen? "Million Dollar Baby" weicht, nachdem es sich wie eine klischeesatte rags-to-riches-Fabel angeht, vom erwartbaren Pfad eines Sportdramas ab und nimmt eine Wendung, die einen trifft wie ein wohlplatzierer linker Haken. Neben Hilary Swank und Eastwood ist auf schauspielerischer Seite Margo Martindale zu ehren, in ihrer Paraderolle "Matriarchin in dysfunktionaler Familie".

Mord im Pfarrhaus
Abt. Vergeigte deutsche Verleihtitel: Weder hat diese schwarze Komödie von 2005 etwas mit Agatha Christies gleichnamigem Roman (A Murder at the Vicarage) zu tun, noch ereignet sich während der gesamten 100 Minuten Laufzeit ein einziger Mord im Pfarrhaus. Den Originaltitel halte ich allerdings für noch missglückter, verrät er doch einen überraschenden Umstand, der erst weit nach der Hälfte offenbart wird; weswegen ich ihn ausnahmsweise verschweigen möchte.
"Mord im Pfarrhaus" ist beileibe nicht die originellste Briten-Comedy aller Zeiten, lässt sich aber prima an einem verregneten Samstag zum Fünfuhrtee weggucken. Für einen Film mit FSK-6-Freigabe geht es reichlich naughty und auch in Sachen Gewalt nicht übermäßig gezügelt zu. Gefallen hat mir, Rowan Atkinson in einer seltenen nicht-misterbeanartigen Rolle zu erleben. Maggie Smith ist eh immer toll. 

Infernal Affairs
Zwei Schmunzel-Fakten vorab: 1.) Ich hatte jahrelange geglaubt, der Film hieße "Internal Affairs", weil es ja schließlich um Interna, Insiderwissen und interne Ermittlungen geht. 2.) Die DVD (!) lag damals der Fernsehzeitschrift TV Movie bei und befindet sich seit 2008 in meinem Besitz. Das weiß ich, weil in der nicht skipbaren Trailerschau ein Filmfestival angekündigt wird, das 2008 lief. Neben Teil 1 enthält der Silberling auch noch "Infernal Affairs II". Wann ich mir den anschauen werde, kann ich noch nicht sagen, denn so richtig gepackt hat mich der vielgelobte Mafiathriller nicht. Ich gebe es nur ungern zu – denn ich bin bekanntermaßen kein Fan von Remakes –, aber Martin Scorseses "westliche" Aufbereitung des Stoffs ("The Departed", 2006) fand ich ungleich gelungener. Meine Begeisterung für Letzteren mag sogar den Ausschlag dafür gegeben haben, dass ich mir die TV-Zeitschrift mit Gimmick damals überhaupt kaufte, aus Neugier. Ich bin – eventuell weniger bekanntermaßen – aber auch kein Fan von Hongkong-Action, weswegen ich die Qualität, die dem 2002er Werk von Andrew Lau und Alan Mak einhellig beschieden wird, nicht ein- bzw. wertschätzen kann.

The Ladies Man
Tim Meadows gehört zu meinen All-time-Lieblingsmitgliedern von "Saturday Night Live". Dass er vor ein paar Jahren auf einer "Greatest SNL Cast Members"-Liste (vom Rolling Stone oder was) unter "ferner liefen" geführt wurde, war nur ein Zeichen von vielen dafür, dass dieses Ranking von komplett ahnungslosen Narren erstellt worden war. Von 1991 bis 2000 war Meadows Teil des Ensembles – mit dieser Verpflichtung über zehn Staffeln stellte er damals einen Rekord auf! – und glänzte dabei sowohl als straight man als auch als Wegwerf-Pointenlieferant, der mit einer einzelnen Zeile einen Sketch zu vergolden im Stande war. Doch egal, ob in solchen kleineren Parts oder als Lead, er spielt(e) stets mit 100-prozentiger Hingabe und vor allem ohne jemals aus der Rolle zu fallen. (Heute kommt ja leider keine verdammte SNL-Folge ohne breaking aus.) Bezüglich der angesprochenen Lead-Parts haben von seinen Promi-Parodien (impressions) wohl O.J. Simpson und unter den wiederkehrenden Figuren (characters) der "Ladies Man" den höchsten Bekannt- und Beliebtheitsgrad erreicht.
Im Jahr 2000 entschied man sich, Letzteren ins Kino zu bringen. Wider besseres Wissen, ist man geneigt zu sagen, denn die meisten vorigen Filme mit SNL-Charakteren aus Meadows' Ära (in einigen hatte er sogar mitgespielt) waren peinlichst gefloppt: "It's Pat", "Stuart Saves His Family", "A Night at the Roxbury", "Superstar". Um es kurz zu machen (und verwundern sollte es nicht; ich gehe davon aus, die wenigsten, die das hier lesen, haben je von diesem Film gehört): Der Fluch traf auch "The Ladies Man", Kritiken wie Zuschauerzahlen waren desaströs. Schade, denn es gibt ein paar zündende Gags, tolle Nebendarsteller (Will Ferrell!), und vor allem: Entgegen den Befürchtungen, die man bei einer Komödie aus der Jahrtausendwende über einen lüsternen Sextherapeuten haben könnte, ist sie erstaunlich gut gealtert. Der titelgebende Casanova und Radiomoderator hat das Herz am rechten Fleck und am Ende eine korrekte Botschaft zu verkünden: "Respect women!"

Infinite Storm
... ist mein Highlight in der diesmonatigen, eher mittelmäßigen Auswahl. In einem Satz zusammengefasst, klingt die Prämisse dünn bis altbacken: Eine Frau zieht sich nach einem Schicksalsschlag (der in Rückblenden rekonstruiert wird) in einen Nationalpark zurück, wo sie als freiwillige Rettungskraft arbeitet und eines Tages auf dem Mt. Washington nicht nur einen jungen Mann, sondern auch sich selbst (wieder)finden muss. Aber! Das auf einem Zeitungsartikel basierende Abenteuerdrama der preisgekrönten polnischen Regisseurin Małgorzata Szumowska kann mit zwei überwältigenden Protagonistinnen auftrumpfen: zum einen Naomi Watts (auch Produzentin), die sich schon in "The Impossible" mit einer ungebändigten Naturgewalt konfrontiert sah; zum anderen ebenjene Naturgewalt selbst. Der menschenfeindliche Berg im Schneesturm (gefilmt wurde in Slowenien) ist so eindringlich in Szene gesetzt worden, dass man die Eiseskälte sogar im 27 Grad heißen Wohnzimmer spürt. Danke!

The Nightingale
Noch mehr an die Substanz geht dieser ... ja, was eigentlich? "Rape-and-Revenge-Western"? Er spielt jedenfalls im ausgehenden "Black War" im Umfeld einer tasmanischen Strafkolonie, und inszeniert hat ihn die Australierin Jennifer Kent, die vier Jahre zuvor mit "The Babadook" einen der abgründigsten Gänsehaut-Streifen der 2010er vorgelegt hatte.
Oft moniere ich zu lange Laufzeiten, aber hier sind die fast zweieinhalb Stunden angemessen und verstärken die Intensität.

Vier im roten Kreis (OT: Le cercle rouge)
Es reicht jetzt endgültig. Wie dem deutschen Kino kehre ich hiermit dem französischen Kino ein für alle Mal den Rücken und werde mich nur im absoluten, schlechterdings nicht vorstellbaren Ausnahmefall umkehren.
Ich hatte vor einer Weile schon mal einen anderen Schwarzweißfilm desselben Regisseurs angefangen, weil die Beschreibung mich als Binneninsel-Fan gereizt hatte: "Der Kampf auf der Insel" (1962). Den habe ich nach zehn Minuten abgebrochen, weil ich es einfach nicht aushielt. Durch Jean-Pierre Melvilles "Cercle Rouge" habe ich mich durchgekämpft, allein weil ich verstehen wollte, warum ihn Quentin Tarantino zu seinen Vorbildern und Lieblings-Thrillern zählt. Nun, ich verstehe es genauso wenig, wie mir die Prädikate "wegweisend" oder "bahnbrechend" in Bezug auf "Rififi" und "Fahrstuhl zum Schafott" einleuchten. Es sind objektiv keine akzeptablen Heist-Movies, und ich bin mir sicher, auch ohne sie hätte sich das Genre entwickelt – weiterentwickelt hat es sich außerhalb Frankreichs allemal. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Sobald ein räuberisches Element hinzutritt, büßt der Beutezug an Cleverness ein und ist kein Heist mehr, wie wir ihn lieben. Und entre nous, wenn du während der "großen Nummer" mit einem quälend zähen Kameraschwenk zu unpassender Musik über die Dächer der nächtlichen Stadt vom Geschehen ablenkst, grenzt das an Arbeitsverweigerung.
Als "hart wie Granit, kalt wie Polareis und logisch wie eine mathematische Gleichung" kündigte das deutsche Filmplakat "Vier im roten Kreis" seinerzeit an. Va chier! Es gibt kalte Charaktere, die einen wirklich bibbern lassen, und solche, die einen schlicht kalt lassen, weil sie, wie hier, hohl, leer, flach, hölzern, kurzum: charakterlos sind. Man lässt sie schweigen, weil man zu faul ist, ihnen glaubwürdige Dialoge zu schreiben, und verkauft das als Abgebrühtheit, als definierende Eigenschaft, ja als "Tiefe". Ich erkenne aber bei keinem der Akteure irgendeine Motivation, geschweige denn bin ich bereit, mich in sie hineinzuversetzen oder mit ihnen zu sympathisieren. Entsprechend scheißegal ist es mir, dass die "Antihelden" (nicht mal als solche gehen sie durch) im antiklimaktischen Finale erschossen werden; und dass ich das jetzt gespoilert habe, ist mir ebenso scheißegal.
Ein Beispiel für das Versäumnis, irgendwelche intrinsischen Antriebe darzustellen: Ein Polizist im Ruhestand, der in den verbrecherischen Coup hineingezogen wird, begreift seine Involvierung als Chance, von seiner Alkoholsucht loszukommen. Das habe ich allerdings erst bei Wikipedia nachgelesen. Im Film ist der einzige Hinweis auf ein psychisches Problem des Ex-Ermittlers ein Halluzinationsanfall, in welchem Frösche, Schlangen und andere Untiere durchs Schlafzimmer kreuchen. Von einem Alkoholentzug oder sonstigem struggle sieht man original nichts.
Abstoßender als der eben erwähnte Traum sind nur noch die widerwärtigen Paris-Aufnahmen. Dass uns französische Großstädte als Rattenlöcher verkauft werden, ist mir schon in den zwei oben genannten Filmen sauer aufgestoßen. Was solllll das? Gerade die Hauptstadt hat (und hatte garantiert auch damals schon) mehrere ansehnliche Ecken und reizende Sehenswürdigkeiten zu bieten, wovon ich mich erst neulich überzeugen konnte (Kybersetzung-Leser erinnern sich). Das hat nichts mehr mit "Atmosphäre" und "Noir" zu tun, das ist einfach Negativfärbung und choquer pour choquer.
Zu guter Letzt müssen wir noch den Bechdel-Test machen. Während der 140 (!) Minuten sagt keine Frau auch nur e i n Wort. Der einzige längere Auftritt einer weiblichen Figur besteht darin, dass die Partnerin von einem der Gangster diesen durch eine Tür bei einem Gespräch belauscht. Barbusig. Diese Szene hat keinen Sinn und keine Konsequenzen. Null.
Ich behaupte, ich habe in diesen Beitrag mehr Gedanken investiert, als in das Drehbuch zu "Le cercle rouge" geflossen sind. Tut mir leid, dass er mit so einer bitteren Note endet.

Dienstag, 16. August 2022

Die letzte Folie

Kürzlich habe ich die Geduld verloren ... mit Frischhaltefolie! Es mir nicht (mehr) gelungen, ein zusammenhängendes Stück über die gesamte Breite der Rolle abzuwickeln. In dünnen Streifen riss die Adhäsionsfolie ab, dabei ihrem Namen gerecht werdend überall, sogar an sich selbst, festklebend; ja, am Ende erkannte ich nicht mal mehr, in welche Richtung ich das perfide Plastikpapier überhaupt zu rollen hatte. Ich sage euch: Die Darstellung bei "Family Guy" nahm sich harmlos dagegen aus. Das Gerangel war so schlauchend, dass ich mich gezwungen sah, das Teil, so wie es war, in den Abfall zu geben. Darüber vergoss ich beinahe ein Tränchen. Nicht wegen des materiellen Verlustes (wobei der mich durchaus wurmte – immerhin war da noch gut und gerne ein Viertel "drauf"!!!), sondern weil diese Haushaltsware von einer Reise stammte, an die ich gerne zurückdenke.

Als ich in Grönland unterwegs war, kaufte ich, um darin fortan mein Proviant einzuschlagen, das abgebildete Produkt – bei welcher der beiden großen grönländischen Supermarktketten, SPAR oder Pisiffik, weiß ich nicht mehr. Das war im Spätsommer 2015, und noch fast sieben Jahre später konnte ich es daheim nutzen und jedes Mal denken: 'Hach, der gute alte Husholdningsfilm ...' (Da kann man mal sehen, wie selten ich Frischhaltefolie verwende!)

Und um solcher scheinbar banalen Spontan-Reminiszenzen willen empfehle ich allen Reisenden, sich in jedem Urlaub irgendetwas zu besorgen, das später noch, möglichst lange, praktisch zu gebrauchen ist. Einem Souvenir im engeren Sinne ist eine solche Assoziationskraft nicht eingeschrieben; eine Statuette, eine Muschel, ein Zeremoniendolch (nicht dass dagegen per se etwas zu sagen wäre!) werden mit der Zeit zum sprichwörtlichen "Staubfänger" degradiert. Wie oft nimmt man so ein klassisches Mitbringsel schon in die Hand? "Benutzen" kann man es ja nicht! (Also, einen Zeremoniendolch schon, aber das bringt einem meist Ungemach ein.) Irgendwann vergisst man gar, wo und unter welchen Umständen man das Souvenir erworben hat. Eine Rolle Frischhaltefolie dagegen ... nun gut, wo genau ich die erworben habe, ist mir, s.o., entfallen, aber welche Dienste sie mir gebracht hat, bevor sie mich zu hintergehen beschloss, werde ich nie vergessen.

Einen trivialen Alltagsgegenstand aus Grönland besitze ich übrigens noch: diese Tüte, in der ich beim Reisen meine Schmutzwäsche aufbewahre.

Sonntag, 14. August 2022

Traurige Domainübernahme

In meinem Feedreader befindet sich immer noch die ursprüngliche Adresse des Kultblogs von René W., dessen Schicksal ja allgemein bekannt sein dürfte. Seit ein paar Monaten wird n*rdcore[Punkt]de wieder betrieben und sogar mit Inhalten befüllt. Wann immer ein neuer Beitrag von dort in meinen Feed gespült wird, erschrecke ich leicht, nur um kurz darauf wehmütig zu werden. Hinter der vertrauten URL steckt ein seelenloser Technik-Kaufberater, die Texte lesen sich wie von einem Bot generiert. Leider bin ich zu faul, meine Blog-Abonnements sorgfältiger zu pflegen.

Freitag, 12. August 2022

Filmtitel XXV

(mit Gruß an Torsten Dewi, dem ich mindestens einen Eintrag verdanke)

The Stepdaughter → Die Abrechnung – Eine Tochter kehrt heim
The Hanging Woman → Der Totenchor der Knochenmänner
Flash and the Firecat → Die Buggy-Bumser
So Fine → Der ausgeflippte Professor
Take a Hard Ride → Einen vor den Latz geknallt
Innocent Bystanders → Wer zuletzt lebt, lebt am besten
The Bad Guys → Die Gangster Gangster
Marry Me → Marry Me – Verheiratet auf den ersten Blick
Draug → Viking – Dark Ages
Now and Then → 20 Years
Barbaque → Veganer schmecken besser
My Boss's Daughter → Partyalarm – Finger weg von meiner Tochter
Press Play → Press Play and Love Again
Top Crack → Immer Ärger mit den Lümmeln
The Wild Affair → Die total verrückte Büroparty
You Might Get Lost → No Way Back – Tödliche Vergangenheit
Last Seen Alive → Chase
The Last Bus → Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr
A New Leaf → Keiner killt so schlecht wie ich

Mittwoch, 10. August 2022

Die 72 Eiffel-Namen

Das wusste ich bis vor kurzem auch noch nicht: Auf den Friesen der ersten Etage des Eiffelturms, also in circa 57 Metern Höhe, sind reihum in güldenen Lettern die Nachnamen von 72 bedeutenden Männern der Wissenschaft angebracht. In ihrer jetzigen Gestalt zu sehen sind die Namen erst seit ihrer Wiederherstellung in den Jahren 1986/87, nachdem sie Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge eines Neuanstrichs des Pariser Wahrzeichens überpinselt worden waren.

Die Auswahl der vor allem in Mathematik und Technik tätig gewesenen Personen "traf Eiffel selbst; für einige Namen wurde er kritisiert. Er überging bewusst Wissenschaftler mit langen Familiennamen und auch Frauen, die sich in der Wissenschaft verdient gemacht haben" (Wikipedia). Bis auf zwei Schweizer und einen Italiener handelt es sich um Franzosen. Aber wie viele von ihnen sind einem (sprich: mir) namentlich bekannt? Erschreckend wenige!

  • LAPLACE: Wiederkehrender Gast im Mathematikunterricht der Sekundarstufe II
  • LAVOISIER: Kam ja sogar schon mal am Rande in diesem Blog vor
  • AMPÈRE: Klar, Stromstärke
  • BROCA: Über das menschliche Gehirn habe ich dies und das gelesen und gehört. Broca-Areal, Broca-Aphasie, spannendes Zeug!
  • BECQUEREL: War zuletzt "nach Fukushima" in aller Munde
  • CORIOLIS: Ich sag' nur "Bart gegen Australien" ("The Simpsons", Ep. 6.16)!
  • PERRIER: Der Erfinder des Mineralwassers. Nein, Spaß, den kenne ich auch nicht.
  • CAUCHY: Tja, "kennen" wäre zu viel gesagt, aber ich habe das Gefühl, dass der Name in einer Ecke meines Gedächtnisses schlummerte, und eingedenk dessen, womit der Herr sich befasst hat, könnte auch er mal in den Analysis-Tiefen unseres Mathe-Grundkurses eine Rolle gespielt haben.
  • COULOMB: Eine physikalische Maßeinheit, aber wofür? (Ich habe nachgeschlagen: elektrische Ladung! Einheit: 1 C)
  • FOUCAULT: Der mit dem Pendel
  • DAGUERRE: Der mit der Daguerreotypie
  • FOURIER: Ein Weggefährte des großen Ägyptologen Champollion, aber, wie ich soeben lese, "nebenbei" auch Physiker

Nicht mal ein Dutzend von 72: Diese miese Quote lässt mich wohl ziemlich ignorant erscheinen, was die Wissenschaftsgeschichte der Grande Nation angeht. Ich gelobe Besserung und fange damit an, peu à peu die Wikipedia-Einträge der Geehrten zu studieren.

Montag, 8. August 2022

Einiges über, nein: unter New York

Vor ein paar Monaten bemerkte ich am Rande, dass ich nach "Access All Areas" des Herrn "Ninjalicious" Appetit auf mehr Literatur zum Thema verspürte. Ein ebenda in einer "kurzen Geschichte der Urban Exploration" erwähntes Buch machte mich besonders neugierig: "New York Underground. Anatomie einer Stadt" der in New York lebenden deutschen Untergrundforscherin Julia Solis. Sowohl die in Berlin erschienene Originalausgabe von 2002 als auch die englische Übersetzung sind nur noch antiquarisch und zu Mondpreisen zu bekommen, doch löblicher- und glücklicherweise hatte meine Lieblingsbibliothek ein Exemplar des deutschsprachigen Hardcovers im Bestand. Ich lieh es mir und kann sagen: Wer sich nur im Entferntesten für die unsichtbaren Lebensadern der US-Metropole schlechthin interessiert und irgend an das Buch herankommen kann, sollte es sich vornehmen.

Aus der Masse an spannenden Fakten und Anekdoten möchte ich ein Kuriosum wiedergeben, das mit Urbex nicht direkt etwas zu tun hat: Der erste Mann, der von einer U-Bahn überfahren wurde, hieß Leidschmudel Dreispul. Noch mal zum Mitschreiben: Leidschmudel Dreispul. Der Name mitsamt der unrühmlichen Errungenschaft seines Trägers war mir aus Ninjalicious' Buch bekannt, aber ich hielt die entsprechende Notiz für einen Insider-Gag, eine Art U-Boot, zumal man ausschließlich auf (wenige) Veröffentlichungen aus dieser Szene stößt, wenn man danach googelt. Aber warum sollte die Autorin in einem ansonsten beispiellos quellentreuen Werk eine Legende reproduzieren oder den Samen für eine solche säen? Im Detail heißt es bei ihr: "Bislang kannte man nur langsame Straßenbahnen, denen man leicht aus dem Weg gehen konnte. Vor den Straßenbahnen aus dem Weg zu springen, 'dodging' genannt, war ein so populärer Sport, daß das Brooklyner Baseball-Team sich den Namen 'Dodgers' gab. Aber der IRT-Zug fuhr 65 Stundenkilometer." (IRT = Interborough Rapid Transit) "Das erste Opfer war Leidschmudel Dreispul, der eine Woche nach der IRT-Eröffnung im Tunnel unter der 137. Straße einen Spaziergang auf den Gleisen unternahm und nach nur wenigen Metern von einem Zug erfaßt wurde. Ähnliches passierte nun leider so oft, daß die IRT-Gesellschaft Schilder aushängen mußte, die das Betreten der Gleise untersagten."

Samstag, 6. August 2022

Ratschlag für euch

Falls ihr mal Überraschungsbesuch bekommt, müsst ihr an der Tür unbedingt den Namen des Besuchs laut aussprechen und/oder in welchem Verhältnis die Person zu euch steht, also zum Beispiel "Dad!" oder "Cousin Marty!". Denn es könnte ja sein, dass ihr eine Serienfigur seid, und euer Publikum – das bekanntlich stets alles vorgekaut und auseinanderklamüsert haben will – soll sofort wissen, welcher Charakter gerade eingeführt wird.
Wenn ihr es aber vergesst und etwa nur "Oh ..." oder "Bob!" stammelt: kein Problem, dann wird der oder die Unerwartete die pflichtgemäße Klarstellung übernehmen und sagen: "Hallo, Schwester ..." oder so.

Donnerstag, 4. August 2022

Kurz notiert: Rhode Island

Warum habe ich das jetzt erst mitbekommen? Der US-Staat Rhode Island hat seine Einwohner im November 2020 – bürokratieschonend am Tag der Präsidentschaftswahl – darüber entscheiden lassen, ob sein offizieller Name einer Kürzung unterzogen werden soll. Das Referendum fiel zugunsten der Straffung aus: Aus dem State of Rhode Island and Providence Plantations wurde der State of Rhode Island.

Seitdem ist der "Ocean State" nicht länger der Bundesstaat mit dem längsten offiziellen Namen. Diesen führt nun ein anderer Neuengland-Staat, das Commonwealth of Massachusetts mit 27 Buchstaben, dicht gefolgt vom Commonwealth of Pennsylvania. "We all live in fear of the moment when the Commonwealth of the Northern Mariana Islands applies for statehood", zitiert der Boston Globe den tongue-in-cheek-Kommentar des Providencer Hobby-Historikers Robert I. Burke.

Hauptgrund für die Namensänderung war die unangenehme Assoziation, die mit dem Verweis auf Plantagen heutzutage einhergeht. "For a long time, 'plantations' did not connote slavery", so Burke gegenüber dem Globe. "But at one point, it became irretrievably tied to the concept of slavery, and Rhode Island played such a prominent role in the slave trade." Wenigstens kann sich Rhode Island nach wie vor mit dem Rekord "kleinster Staat der USA" schmücken.

Dienstag, 2. August 2022

Serientagebuch 07/22

03.07. Obi-Wan Kenobi 1.01
04.07. 15 Storeys High 2.06
Night Sky 1.06
05.07. After Life 3.01
After Life 3.02
Obi-Wan Kenobi 1.02
Obi-Wan Kenobi 1.03
06.07. Der junge Inspektor Morse 2.03
After Life 3.03
After Life 3.04
08.07. After Life 3.05
After Life 3.06
I Love That for You 1.01
09.07. Der junge Inspektor Morse 2.04
Obi-Wan Kenobi 1.04
Obi-Wan Kenobi 1.05
Obi-Wan Kenobi 1.06
10.07. I Love That for You 1.02
Night Sky 1.07
Night Sky 1.08
11.07. Westworld 4.01
13.07. Der junge Inspektor Morse 3.01
14.07.
I Love That for You 1.03
I Love That for You 1.04
15.07. Westworld 4.02
Westworld 4.03
16.07. Der junge Inspektor Morse 3.02
17.07. I Love That for You 1.05
I Love That for You 1.06
18.07. Better Call Saul 6.01
Better Call Saul 6.02
19.07. I Love That for You 1.07
20.07. Better Call Saul 6.03
Better Call Saul 6.04
22.07. I Love That for You 1.08
Westworld 4.04
Better Call Saul 6.05
Better Call Saul 6.06
27.07. Better Call Saul 6.07
Der junge Inspektor Morse 3.03
29.07. Der junge Inspektor Morse 3.04
31.07. Better Call Saul 6.08
Westworld 4.05

Diesmal kann ich mich relativ kurz fassen, bevor ich nächsten Monat vermutlich wieder mehr zu sagen haben werde.
Die zweite Staffel von 15 Storeys High hat mich nicht weniger amüsiert als die erste, wobei die Darstellung des Plattenbau-Alltags erneut dazu geeignet war, mich herunterzuziehen. Die kleinen Cutaways in andere Wohnungen als die der zwei Buddys lockerte das Ganze dann aber genug auf. Bis zum Schluss waren die "Handlungs"-Stränge der Folgen (von denen übrigens keine mehr mit Lachern vom Band versehen wurde) in sich abgeschlossen. Dass ich, wie Aufmerksamen aufgefallen sein dürfte, letzten Monat versehentlich die fünfte vor der dritten geschaut habe, war mithin bedeutungslos.
Ordentlich Entwicklung gibt es dagegen bei I Love That for You, fast schon zu viel für lediglich acht Episoden. Läuft die Shopping-TV-Sitcom noch relativ launig und turbulent an, verdüstert sich das Szenario ab der Hälfte merklich, und am Ende herrscht schlechte Laune vor, garniert mit reichlich horniness. Bei aller Unausgegorenheit zähle ich "I Love That for You" zu den innovativsten Newcomern des Jahres. In ihren witzigsten Momenten erinnert es an "30 Rock", und die Verkaufssendungs-Ausschnitte könnte man sich beinahe in einer Sketch-Show vorstellen. Das kommt nicht von ungefähr, denn mitkonzipiert hat die Serie Hauptdarstellerin Vanessa Bayer, die übrigens nicht die einzige ehemalige SNL-Schauspielerin im Ensemble ist: Zur Seite steht ihr die nicht minder tolle Molly Shannon als Grande Dame der QVC-&Co.-Parodie "SVN".
Als rundum runde Sache kann nach der dritten und letzten Season After Life betrachtet werden. Nicht nur die Hauptfigur bekommt ein anrührendes Ende spendiert, auch alle Nebenfiguren erfahren, nachdem sie sich das Scheinwerferlicht mit dem griesgrämigen Witwer noch stärker teilen durften als in den ersten beiden Staffeln, closure. Schön! Um es mit dem Twitterer @personaldebatte zu sagen: "Es ist doch interessant, dass Ricky Gervais hier bei http://twitter.de und in Interviews so ein schrecklicher und ekelhafter Mensch ist, es ihm aber immer wieder gelingt, wirklich anrührende Serien zu erschaffen. Merkwürdig, merkwürdig."
Punkten tat auch die (ganz und gar unkomische) Amazon-Eigenproduktion Night Sky immer dann, wenn es menschelte. J.K. Simmons und Sissy Spacek füllen ihre Figuren mit unglaublich viel Wärme und Tiefe. Weniger gelungen ist die Präsentation des Mysteriums, um das sich alles dreht. Mitraten und -staunen kann man allemal, aber irgendwas ist off: vielleicht die vereinzelten Längen, die es in den 54-minütigen Folgen gibt? Wie dem auch sei, eine zweite Staffel hätte ich mir gerne noch angeschaut, doch Amazon hat "Night Sky" abgesetzt und lässt uns mit der ein oder anderen unbeantworteten Frage zurück.
Was ich nach "The Book of Boba Fett" be- und gefürchtet hatte, macht sich schleichend bei mir bemerkbar: Star-Wars-Müdigkeit. Kaum zu fassen eigentlich. Man verstehe mich nicht falsch: Obi-Wan Kenobi ist Entertainment vom Feinsten, aber ich hätte es noch epischer gefunden, wenn Disney mal ein Jahr ausgesetzt hätte mit neuem Content. Und ganz ehrlich: Muss man so etwas wie [Spoiler!] einen Kampf zwischen Darth Vader und seinem ehemaligen Meister bereits in der dritten Episode verbraten? Und im September soll auch schon "Andor" starten? Uff. Ich glaube, die hebe ich mir ein paar Monate auf. Wer kundige Analysen und Meinungen zu "Obi-Wan", die ich unterschreiben könnte, hören möchte, sei wie so oft auf den Overthinking-It-Podcast verwiesen.
Wunderbar durchsuchten kann man Der junge Inspektor Morse. Ich liebe einfach alles daran und vermag gar nicht zu sagen, ob Staffel 2 oder 3 besser war. Überraschend düster wurde es in dieser wie in jener, und es ist ein Vergnügen zu registrieren, wie vormals als Gegenspieler angelegte Charaktere an Kontur und Nahbarkeit gewinnen, während Sympathieträger diverse "Kratzer im Lack" bekommen.