Sonntag, 28. August 2022

Der Sommer unseres Fahrvergnügens

Ausnahmsweise muss ich ein aktuelles Thema behandeln. Es ist mir ein Bedürfnis, für die Nachwelt festzuhalten, dass es vom 1. Juni bis zum 31. August 2022 in Deutschland etwas gab, das man als erfreulich bezeichnen konnte. Ja, in der Tat, es war das erste und einzige Schöne seit circa fünf Jahren: das 9-Euro-Ticket. Man durfte für nur 9,- € im Monat bundesweit den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Was für ein Luxus, eine Erleichterung, ein Gewinn! Nicht nur, dass man die eigene Region mal richtig er-fahren konnte, man konnte auch weiter auseinander liegende Städte mit dem Regionalexpress als Alternative zu IC, ICE & Co. erreichen, sofern man sich etwas Zeit nahm und ein dickes Fell hatte. Dresden-Frankfurt? 8 Stunden, ja mei. Kostenlos auf die Documenta in Kassel fahren? Easy-peasy, hab ich gemacht. Angenehm war es auch, am Zielort aussteigen und einfach mit der örtlichen Tram oder mit dem Bus weiterfahren zu können, ohne sich mit Tarifzonen befassen oder ständig Kleingeld für Fahrkartenautomaten dabei haben zu müssen. Ich fühlte mich an die goldenen zwei Jahre, in denen ich eine BahnCard 100 besaß, zurückversetzt.

Das 9-Euro-Ticket machte Lust aufs Reisen im eigenen Land, es brachte Menschen nach draußen, die sonst kaum Anreize dazu haben, ermöglichte, kurzum, Teilhabe, zudem entlastete es die Umwelt und den Straßenverkehr, stellte einen leichten Puffer angesichts der kriegsbedingten Energiepreisexplosion dar, stieß Diskussionen an, stellte potenzielle Weichen für weitere Elektrifizierungs-Innovationen, die Deutsche Bahn und das Umweltbundesamt zogen eine positive Bilanz ... Unnötig zu erwähnen, dass die Politik das 9-Euro-Ticket nicht verlängern wird. Als Hauptargument wird dabei der – nicht zu verschweigende! – Fakt ins Feld geführt, dass der Zugverkehr in diesem Sommer an seine Grenzen kam. Überfüllte Wagen, Verspätungen und sonstiges Chaos waren permanente Begleiter der Niedrigpreisaktion. Doch daraus ziehen die meisten Regierenden nun nicht den Schluss, dass man halt großzügig (!) Kohle (!) in den Ausbau von Personal und Schienennetz zu stecken hat, so wie es ja auch mir nichts, dir nichts mit der Bundeswehraufrüstung möglich war. Nein: Strohmannargumente werden bemüht ("Menschen, die aufs Auto angewiesen sind, würden ungefragt ein Ticket, das sie nicht nutzen, mitsubventionieren"), freidemokratische Widerlinge sprechen gar von "Gratismentalität", und überhaupt dürfe man das System nicht von heute auf morgen an seine Belastungsgrenze bringen, was übersetzt heißt, dass man weiterhin einen Teil der Gemeinschaft von der regelmäßigen Bahnnutzung ausschließen muss, indem man die Preise mindestens knapp über deren Budget hält. Da kann man froh sein, dass beispielsweise Bildung und Gesundheitsversorgung als Grundrechte gelten, sonst würde man womöglich morgen das kostenlose Studium abschaffen ("damit die Hörsäle nicht überfüllt sind") und übermorgen den freien Zugang zu ärztlicher Behandlung ("damit nicht Hinz und Kunz wegen jedem Wehwehchen die Praxen einrennen"). Notabene: Ältere erinnern sich, dass es eine Weile in Deutschland eine sog. Praxisgebühr gab und in einigen Bundesländern Studiengebühren anfielen. Die rechtlichen Grundlagen dafür müsste ich gesondert nachzuvollziehen versuchen, aber solange derlei möglich ist, dürfte es schwierig sein, aus der Verfassung ein Grundrecht auf Mobilität abzuleiten, egal welche Parteien gerade an der Macht sind.

Aber es gibt Hoffnungsschimmer. Berlin hat eine zunächst dreimonatige Neun-Euro-Fortsetzung ab Oktober angekündigt (wenn auch nur für Berlin). Ein bundesweit geltendes 29-Euro-Angebot ist im Gespräch, was ich ohne zu zögern annehmen würde. Bei 69 Euro, eine weitere oft genannte Summe, wäre ich schon nicht mehr dabei. Was auch immer kommen mag: Die glücklichen Erinnerungen an den Sommer unseres Fahrvergnügens wird uns niemand nehmen können.

1 Kommentar:

  1. Nun konnte auch ich endlich einen Sommer des Fahrvergnügens erleben! Nicht so um die Jahrtausendwende: Da betrieb ich mit Freunden das sogenannte Aggressive Inline Skating, jene Ausprägung des Rollschuhsports, bei dem man ähnlich wie beim Skteboarden grindet, springt und über Rampen/in Halfpipes donnert. Und einer der Grinds hieß – Fahrvergnügen! Den konnte ich aber, wie die meisten anderen Grinds, leider nicht. So sieht er aus: https://youtu.be/FDHXz84OmjE

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