Donnerstag, 30. Mai 2024

TITANIC vor zehn Jahren: 6/2014

Abermals doppeln sich die Ereignisse (was in diesem Fall kein allzu unvorhersehbarer Zufall war): Während in der Gegenwart die Fußball-EM eingeläutet wird, stand 2014 die – für Deutschland nicht gerade erfolglose – Weltmeisterschaft an, was uns zu diesem feucht-fröhlichen Cover in Brasiliens Nationalfarben inspirierte:


Man muss konstatieren, dass Fußball-Titel nie die Stärke von Titanic waren; meist sind es unter Druck und Stress gezeugte Kopfgeburten, die man sich abringt, weil man das Gefühl hat, irgendwas zu dem Thema machen zu müssen. (Die aktuelle Ausgabe 6/24 hat fast keinen Ballsportbezug vorne drauf – bitte kaufen!)

In den Beiträgen zu den weltpolitischen Geschehnissen jener Tage finden sich ebenfalls Parallelen zum Heute. So heißt es im Aufmacher-Fotoroman "Jagd auf Roter Zinnober" (S. 14-17): "Der Verfassungsschutz warnt: Russische Spione sind unter uns". Und auch das involvierte Personal ist gar zu vertraut.


Der zweite Aufmacher bestand in einer Aktion, die ich komplett vergessen hatte! Bis ich die Reportage vor ein paar Stunden aufschlug, hätte ich nicht einmal sagen können, ob ich dabei mitgemacht habe. Worum ging's? Um die sog. Montagsdemos, auf denen sich zunehmend entrücktere Käuze zu versammeln pflegten, von Querfront-Agitatoren bis zu strammen Verschwörungsheinis. Um vor allem Letztere nicht nur näher kennenzulernen, sondern auch ein bisschen zu verwirren bzw. in ihrem verschrobenen Weltbild zu stärken, mischten wir uns als "Bilderberger" unter die "ganz normalen Menschen" auf der Frankfurter Hauptwache und verteilten Pamphlete unserer "Ordo Novus" getauften Subsektion. Wie durch ein Wunder wurden wir nicht verhaftet oder -möbelt.


Am Puls der Zeit: Valentin Witt stellte auf den Seiten 58-60 Influencer vor, die damals noch nicht so hießen und deren Namen mir, bis auf "LeFloid", nichts mehr sagen. Sind diese Erklärbären der "Generation Sprachrohr" heute noch auf Youtube aktiv oder sind die allesamt zu TikTok oder "Funk" abgewandert?


Zum World Cup in Brasilien hatten wir dann doch noch was Größeres: eine fabelhafte Strecke (Hürtgen/Rürup, S. 44ff.), in denen u.a. zur Sprache kam, dass das FIFA-Fest im Gastland von sozialen Unruhen begleitet wurde, ein Fakt, der mir auch schon wieder entfallen war. "Na schön, zugegeben: Es gibt sie, die vereinzelten Proteste einiger weniger hunderttausend Brasilianer. Die Gründe dafür sind mannigfaltig und in vier Wochen WM unmöglich zu bewältigen. Mit Fußball hat all das jedenfalls nichts zu tun. Für weitere Informationen besuchen Sie bitte die offizielle und ausführliche Informationsseite unter www.fifa.com/404/pagenotfound"


Als Querverbindungs-, Referenz- und Überschneidungs-Topic bot sich das Sportspektakel freilich an; ob wir diesen zugegebenermaßen satirisch schwer zu rechtfertigenden Witz wirklich bringen sollten, darüber hatten Tim Wolff und ich lange diskutiert, entschieden uns am Ende aber vor allem angesichts der unbestreitbar ulkigen Optik dafür:


Ladies and gentlemen, we have a major recurring character debut! Zum ersten Mal tritt Der Graf von Unheilig in einem Comic von Leo Riegel auf, als Hauptfigur. "Der Graf himself" (S. 64-65) wurde dermaßen zum Kult, dass diese Figur seitdem in jedem von Leos Wimmelbildern irgendwo versteckt ist (auch auf der Kreuzfahrt-Doppelseite in der aktuellen Ausgabe – bitte kaufen!).


Der ehemalige Katzenkrimi-Autor Akif Pirinçci sorgte ab Frühling 2014 mit seinem entsetzlichen Pöbelschinken und mit etlichen weiteren Entgleisungen für gute Unterhaltung, vgl. auch die Kampagnenanzeige auf S. 33. Fast unangefochtene Bestseller-Dominatrix war bis dahin indes Giulia Enders mit ihrem Tabubruch-Sachbuch (toller Zungenbrecher!) "Darm mit Charme". Das veranlasste Michael Ziegelwagner und mich, eine Kulturtipp-Doppelseite zu kompilieren, die das Pubertärst-Niveauloseste sein dürfte, was wir beide jemals (unter bestialischen Lachanfällen) in die Tastatur gekhackt haben.


Ungewöhnlich: In einer kleinen Anzeige in den BadL-Seiten (vermutlich musste noch Platz gefüllt werden) wird auf die hübsche Online-Rubrik "Die offene Tür" verwiesen. Einfach mal im Newsticker nach "offene tür" suchen! Ungewöhnlich²: Ich selbst habe nie etwas für diese Reihe geschrieben.


Weiteres Notierenswertes
- Ah, diese Ausgabe enthält auch meinen liebevollen Bericht über eine Bosnien-Reise; ein Genre, das ich danach nie wieder bedient habe.
- Apropos Figuren, die einfach unkaputtbar zu sein scheinen: Nicht nur Putin hat neben dem Fotoroman einen weiteren Auftritt, nämlich in der Rürup/Tietze'schen Bildgeschichten-Serie "Putin der Bär", auch U. v. d. Leyen ist, beileibe nicht zum letzten Mal, Objekt näherer Begutachtung ("Der letzte Mensch: Der Zorn der von der Leyen. Eine Studie in politischer Mikroanatomie", S. 66).
- Ein meiner Erinnerung nach einmaliger Fall ist bezüglich der Rubrik "Hier lacht der Betrachter" festzuhalten. Diese umfasst nämlich in dieser Ausgabe nur eine Seite (61) statt der üblichen zwei. Wenn ich mich nicht irre, lag das an dem selbst für "Betrachter"-Verhältnisse äußerst nischigen Monatsthema, das schlechterdings nicht genug hergab: Es ging um den inzwischen leider verstorbenen Synchronsprecher (Homer Simpson) Norbert Gastell.

Schlussgedanke
An dieser Nummer gefällt mir, dass auch die gewichtigen Themen mit eleganter Leichtigkeit abgehandelt werden. Kein Artikel ist länger als vier Seiten, wodurch sich ein farbenfrohes Jux-Gebinde ergibt. Auffällig ist auch, dass beinahe der gesamte Inhalt von der Redaktion erstellt worden ist, was unter anderen Umständen schädlich sein kann, sich hier aber sehr günstig auf das Gesamtpaket auswirkt.

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