Mittwoch, 9. Juli 2025

Sommer ist a-kommend

Wikipedia sieht sich dieser Tage schweren Vorwürfen ausgesetzt. Eine FAS-Recherche hat mangelnde Aktualität und ein nicht unerhebliches Fehlervorkommen offenbart: "Mindestens jeder dritte Artikel hat ein Problem." Kann sein, dass ich die Online-Enzyklopädie fortan mit einer etwas großzügiger bemessenen Prise Salz konsultiere, dessen ungeachtet möchte ich betonen, dass ich immer wieder auf Artikel stoße, die sich durch beispiellose Informationsdichte bei gleichzeitig hohem Unterhaltungswert auszeichnen.

Völlig zu Recht wurde der Eintrag "Sumer is icumen in" 2010 in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen: eine launig-abenteuerliche musik-, literatur- und sprachwissenschaftliche Lesereise! Wie bin ich überhaupt darauf gestoßen? Ich las neulich an anderer Stelle, dass es sich bei diesem auch Sommerkanon genannten mittelenglischen Lied, das mir erstmals in dem Folk-Horror-Kultfilm "The Wicker Man" (1973) begegnet war, um den ältesten überlieferten Kanon der europäischen Geschichte handelt. Angegeben war in jener Quelle sowohl die neuenglische Übertragung des Titels / der ersten Zeile als "Summer is a-coming" als auch die deutsche Übersetzung "Der Sommer ist gekommen". Das wunderte mich nun, war ich doch davon ausgegangen, dass a-coming eine Verlaufsform ist (vgl. Bob Dylan: "The times, they are a-changing"). Der Wikipedia-Artikel klärt diese Diskrepanz in Hinblick auf die Uneindeutigkeit der behandelten Jahreszeit auf:

Der mittelenglische Text des Sommerkanons wurde im Lauf der Jahrhunderte immer wieder an den Sprachwandel angepasst. Den meisten modernen Bearbeitungen ist gemeinsam, dass sie die erste Textzeile mit dem leicht archaisierenden, aber nichtsdestoweniger unmittelbar verständlichen „Summer is a-coming in“ wiedergeben. In dieser Form ist der Kanon insbesondere unter musikalischen Laien sehr bekannt. Problematisch ist hierbei, dass das mittelenglische sumer eine beträchtliche Bedeutungsverschiebung durchgemacht haben müsste, wenn der Text – der heutigen Auffassung entsprechend – als „Frühlingslied“ begriffen wird. Zur Entkräftung dieser Inkonsistenz wird vorgebracht, dass im Mittelalter der 1. Mai als Tag des Sommeranfangs angesetzt wurde, ein Datum, das nach gegenwärtiger Vorstellung noch in den mittel- und westeuropäischen Frühling fällt. Ferner verfälscht „a-coming“ als Verlaufsform den Sinn des mittelenglischen Partizips icumen („gekommen“).

Es ist lohnend und erheiternd, einen Blick auf den vollständigen Text des sechsstimmigen Stücks zu werfen:

Sumer is icumen in,
Lhude sing cuccu!
Groweþ sed and bloweþ med
And springþ þe wde nu,
Sing cuccu!
Awe bleteþ after lomb,
Lhouþ after calue cu.
Bulluc sterteþ, bucke uerteþ,
Murie sing cuccu!
Cuccu, cuccu, wel singes þu cuccu;
Ne swik þu nauer nu.

Der Sommer ist gekommen
Kuckuck, singe laut!
Es wächst die Saat, die Wiese grünt
Und das Gehölz schlägt aus,
Singe, Kuckuck!
Die Aue [das Mutterschaf] blökt nach dem Lamm,
Die Kuh muht nach dem Kalb.
Der Ochse rührt sich, der Bock furzt
Singe froh, Kuckuck!
Kuckuck, Kuckuck, wie schön singst Du, Kuckuck.
Nun schweige niemals mehr.

Auch zu dem auffälligsten Satz darin hat Wikipedia etwas zu sagen:

Besonders umstritten ist bis heute die Deutung des Teilsatzes bucke uerteþ. Dabei ist nicht nur unklar, von welchem Tier bei bucke genau die Rede ist – neben dem naheliegenden Ziegenbock werden auch Rehbock oder Hirsch vorgeschlagen. Ausgesprochen kontrovers wird vielmehr die Bedeutung des Verbs uerteþ diskutiert, da die vermeintliche idyllische Schilderung der im Frühling wiederauflebenden Natur inhaltlich wie stilistisch nur schwer vereinbar scheint mit der Flatulenz eines Paarhufer-Männchens. Während manche Interpretationen folgern, farteth sei im Mittelenglischen weniger derb konnotiert gewesen als das moderne englische farts beziehungsweise das verwandte deutsche furzt, bestreiten andere überhaupt einen Zusammenhang mit dem aus dem Altenglischen belegten feortan und postulieren eine Umdeutung des lateinischen Verbs vertere (im Sinne von „sich [unruhig] hin- und herbewegen“), so dass die problematische Vokabel letztlich nur ein Synonym des vorangegangenen sterteþ sei.

So ernüchternd letztgenannte Deutung auch sein mag, neige ich doch dazu, mich ihr anzuschließen, gerade eingedenk der Verwandtschaft von vertere mit wirbeln und werben i.S.v. "balzen" – das passt doch zu einem ausgelassenen Böckchen im Frühling!

Dienstag, 8. Juli 2025

Das Symbolfoto des Monats

So bebilderte die FAZ einen Artikel, in dem es um die Migrationspolitik von Giorgia Meloni ging:


Absicht oder Zufall? Egal, ich musste schmunzeln.

Sonntag, 6. Juli 2025

Mehr als ein Carr-iereratgeber

Das hätte ich auch nicht gedacht: dass ich mal freiwillig ein self-help book aufschlagen würde. Aber wenn es von Jimmy Carr kommt, dessen Treiben ich seit über 20 Jahren verfolge (in Amsterdam habe ich ihn sogar live gesehen) und dessen Humor-Abhandlung "Only Joking" (2006, mit Lucy Greeves) bei mir im Bücherregal steht, dann muss ich es lesen. Zufällig wartete es im Bereich "Fremdsprachige Literatur" der Frankfurter Zentralbibliothek darauf, von mir mitgenommen zu werden.


Es liest sich bei aller (überraschenden) Aufrichtigkeit und Feinfühligkeit wirklich launig, zumal der Autor nicht darauf verzichtet, Biographisches (inkl. seinen Ärger mit dem Finanzamt) einzuflechten und mit erhellenden Einsichten in die britische Comedy-Szene unterhält (u.a. gibt es einen ganzen Abschnitt über das Edinburgh Fringe). Und ich konnte so einiges für mich persönlich "mitnehmen". Hier sind ein paar Worte übers Scheitern, das Lernen aus Fehlern und die Power des Ausprobierens:
Be bad. Be gloriously and ridiculously bad. Stink up the place.
Have the courage and the conviction of your suckiness. Failure is incredibly freeing, unless you're an escapologist.
Being wrong reminds you that nobody, and I mean nobody, is wholly right. I mean, even David Bowie was in Tin Machine. Getting stuff wrong, and acknowledging that, frees you from being defensive. And being defensive is the quickest way to shut down creativity.
Being wrong is hard – I mean being totally wrong, 100 per cent wrong. It's hard to get stuff perfect and it's hard to fuck up perfectly. But it's pretty easy to get stuff half right. And when you have something half right, then you have a draft, you've filled the blank page. You've got something to work on. Getting it wrong is how you'll defeat procrastination.

... über Kreativität und wie der Begriff heutzutage missverstanden, verwässert und verengt wird:

When we talk about creatives, we have a tendency to think about musicians or artists, we think about people who produce something called 'art' as if it should be reserved for museums and galleries, and only practised by a very few, special people. We put creativity over there and everything else is 'serious business'. Seriously? Fuck that. So dumb. So elitist.
I say this because, before Shell, I worked in advertising. [...] I worked alongside 'the creatives' who did creative stuff: copywriters and graphic designers. It's the dumbest thing. In a company of 200 people, thirty of them were labelled 'creative', as if the rest of us shouldn't even think about doing anything imaginative. We had been put in our place: 'Don't you lot go about having ideas. We've got ideas covered.'
Creativity is not a special thing in a special box in a special room. It's crazy thinking because any business does better if it's open to creativity. Any work can be creative. Architects are creative, as are gardeners, chefs, strippers, cab drivers, nurses, accountants (accountants can be incredibly creative, let me tell you). It's not about what you do, it's how you do it, that's what makes your job creative. [...]
Sometimes the word 'creative' is a problem. If the term is too hippyish for you there are other words available: try 'productive' or 'inventive'.

Und das hier könnte 1:1 von mir stammen:

[...] anxiety is a constant hum in my life.
I look at it this way: yes, I have the lows of anxiety, but I also have the highs of creativity.
Anxiety is the flip side of creativity it's a gift. A gut-wrenching, pain-in-the-arse, nightmare gift. But it's the thought that counts. If you're suffering with anxiety, great news: you're a creative person.
The downside to a creative mind is that it's always on. Anxiety: it's your creativity with nothing to do. Give your creative mind something to do or it'll drive you crazy.
When I'm feeling anxious, I try and refocus my anxiety on something positive, I try to give my mind something to do other than worry. Start simple. Do anagrams, solve a puzzle, anything that gets your mind going.

Das Buch ist auch deshalb so gut konsumierbar, weil es in kurze, knackige Kapitel und Unterkapitel gegliedert ist, denen zudem geistreiche, aufschreibenswerte, meist witzige Zitate vorangestellt sind.

Freitag, 4. Juli 2025

Eine Frucht wird politisch

Ich habe die Mangostan kennengelernt, als sie in Deutschland, wenn überhaupt, noch unter dem Namen Mangosteen zu bekommen war, was, wie ich erst später lernte, wohl die englische Schreibweise ist. Dieses Jahr begegnete mir die schmackhafte Frucht im Frankreich-Urlaub wieder, später dann auf meinem Frankfurter Stamm-Wochenmarkt. Der Preis betrug immer noch 1,50 Euro pro Stück, ist also hierzulande wenigstens nicht höher geworden. Anders als in Kambodscha, das derzeit mit Thailand Grenzstreitigkeiten austrägt, die – wie politische Konflikte so oft – einschneidende Folgen für das Leben der kleinen Leute zeitigen.

"Mittlerweile wurden auf Anweisung der thailändischen Regierung die Grenzen komplett geschlossen", vermeldet die aktuelle Jungle World. "Vor allem auf den Märkten macht sich das Fehlen von Obst und Gemüse aus Thailand bemerkbar. Hout Lon, eine Händlerin auf dem Großmarkt in Battambang, erzählt, dass Gemüse nun aus Vietnam käme und deutlich teurer sei. [...] Dem stimmt die Händlerin Chan Kaju zu: 'Die meisten Früchte sind teurer geworden, wie zum Beispiel die violette Mangostan, die normal für bis zu 700 Riel (0,14 Euro) pro Stück verkauft wird. Aber jetzt ist der Preis auf bis zu 1.300 Riel (0,26 Euro) gestiegen.'"

Mittwoch, 2. Juli 2025

Serientagebuch 06/25

02.06. Scrubs 5.13
Person of Interest 3.23
04.06. Scrubs 5.14
11.06. Family Guy 23.15
Doctor Who 15.08
13.06. The Simpsons 00.75
19.06. Grace 5.03
21.06. Lost 1.16 (RW)
24.06. Scrubs 5.15
Scrubs 5.16
25.06. Grace 5.04
27.06. Scrubs 5.17
Scrubs 5.18
29.06. Lost 1.17 (RW)
Lost 1.18 (RW)
30.06. Scrubs 5.19

Zur Großartigkeit von Person of Interest hatte ich mich ja vor einer Weile schon en passant geäußert. Das hohe Niveau der vorherigen Staffeln konnte die dritte konstant halten. Mittendrin wurde man von dem Ausscheiden einer Hauptfigur schockiert, gegen Ende hin gab es eine schöne Eskalation, und nach dem Finale liegen die Karten neu gemischt auf dem Tisch und warten darauf, in einer vierten Staffel – die dann aber hoffentlich wieder mehr Stand-alone-Folgen enthalten wird – ausgespielt zu werden.

Ganz ehrlich: Die zweite "New New Who"-Staffel war viel zu kurz, um ein prägnantes Bild in meinem popkulturellen Gedächtnis zu formen; ich könnte nicht sagen, was charakteristisch für die vergangenen Doctor Who-Episoden war. Dabei war sie genau so lang wie die vierzehnte. Nun gut, es gab das Götterthema, es gab das Comeback der ... Aber ach, ich will Leuten, die das Ganze noch sehen wollen, nicht die Spannung verderben, weswegen ich auch nicht auf die für mich sehr überraschende letzte Szene von "The Reality War" (wovon ich immerhin circa 85 Prozent verstanden habe) eingehen möchte. Vom 15. Doktor hätte ich gerne noch mehr gesehen. Wann, wenn überhaupt, es nun mit "Doctor Who" weitergeht, hängt, soweit ich das sehe, von der Gnade Disneys ab, oder?

Der Drang zur "Verthrillerung", den ich in der vierten Staffel von Grace (kritisch) wahrgenommen hatte, hat sich mit der nunmehr fünften Staffel wieder ausgeschlichen. Sehr klassisch geht es in den vier neuen (und zum Glück nicht letzten!) Episoden zu. Aufmerksam wie eine Raubkatze muss man freilich sein, um den Faden der dichten Kriminalstorys nicht zu verlieren, einzig die vierte Folge, anhebend wie ein Gerichtsdrama, variiert das Tempo, verläuft angenehm linear, geradlinig und beinahe behäbig, zumindest bis zur Hälfte, ab der dann erneut und beherzt der Turbo eingelegt wird. Sehr packend und unterhaltsam, das alles. Schade bloß, dass Craig Parkinson nicht mehr dabei ist.

Montag, 30. Juni 2025

Dinge, die man beim Umziehen findet [Rubrik wieder da!]

Ich habe mich, bis auf eine Ausnahme, von meiner Sammlung von Presseheften aus meiner Zeit als Filmkritiker (lol, wie hochtrabend!) getrennt:


Und zwar keineswegs schweren Herzens – wann hätte ich mir diese Druck-Erzeugnisse jemals wieder zu Gemüte geführt? Das obige Foto möge ein letztes Mal veranschaulichen, wie viel Geld Filmverleihe, zumindest die größeren, einst in ihre PR gesteckt haben. Heutzutage ist digitales Pressematerial zum Herunterladen die Regel, so dass allenfalls Layoutkosten anfallen; für hochwertige Drucke oder gar Goodies und Gimmicks wird nix mehr ausgegeben.

Wesentlich mehr weh tat es mir, mich von zwei weiteren Paaren Schuhen zu verabschieden. Sie habe ich nicht beim Umzug gefunden, ich habe sie sogar frohen Mutes in die neue Wohnung mitgenommen. Im nun vollends angebrochenen Hochsommer fällt mir jedoch auf, dass die Latschen nicht mehr allzu frisch riechen, zudem sind sie an mehreren Stellen zerschlissen.


Die Vans habe ich in einem Urlaub gekauft, und sie erwiesen sich tatsächlich als perfekte Urlaubsschuhe. Wo ich die "Rockstar"-Schuhe herhabe, weiß ich nicht mehr. Höchstwahrscheinlich von Ebay. Es handelt sich um eine Spezialedition der Marke Etnies, die ich nicht deswegen kaufte, weil ich Fan von "Rockstar" bin (bei Gott, es gibt wenig, was ich weniger gern tun würde als einen Energydrink zu trinken!), sondern weil ich sie stylisch fand. Und immer noch finde, seufz.

Samstag, 28. Juni 2025

R.I.P. Stern-TV-Magazin

Als ich gestern den neuen Stern (er kam mit einem Tag Verspätung) schüttelte, auf dass die TV-Beilage, die das berühmt-berüchtigte Schwedenrätsel enthält, herausfalle, wurde ich enttäuscht: Die Beilage fehlte. Hrmpf, dachte ich, die muss auf dem Postweg verloren gegangen sein; das war in der Vergangenheit schon ein-, zweimal passiert. Als ich das Magazin später durchblätterte, erwartete mich auf der letzten Doppelseite dies:


Sämtliche Rätsel des TV-Heftchens sind ins Muttermagazin gewandert! Und die TV-Beilage selbst? Scheint abgeschafft worden zu sein. Schade. Gerade jetzt, wo ich nicht mehr nur terrestrisches Antennenfernsehen empfange, sondern dank Satellitenanlage auch wieder Privatsender reinkriege, hätte ich gerne regelmäßig eine Programmzeitschrift auf dem Couchtisch liegen. Abgesehen davon habe ich das Stern-TV-Magazin stets deswegen gern aus der Redaktion mit nach Hause genommen (das ist mein Privileg als Seniorredakteur), weil es sich daheim viel behaglicher rätselt als im Büro. Das Kreuzworträtsel im dicken Stern und dann noch am Konferenztisch auszufüllen, fühlt sich nicht richtig an.

Ob wegen der Einstellung des TV-Beilegers ein Sturm der Entrüstung droht? Ich werde nächste Woche die Leserbriefe danach durchforsten.

Donnerstag, 26. Juni 2025

TITANIC vor zehn Jahren: 7/2015

Manchmal, leider sehr selten, kommt es vor, dass jemand auf der Titelkonferenz einen Vorschlag hinlegt, bei dem sich alle sofort einig sind: Der isses. Dieser Gag von Elias Hauck war so ein Fall. (Und es handelt sich noch nicht mal um den lustigsten Hauck-Titel aller Zeiten; der ist nach wie vor unveröffentlicht und wartet auf den perfekten Zeitpunkt ...)


Gut, dass wir den dagegen nur hintendrauf gedruckt haben:

Nicht weil ihn mehrere Gewährsleute aus dem Titanic-Umfeld schlicht nicht verstanden haben (nein, das ist kein Grund – man muss ja auch die Jugend ködern), sondern weil man rückblickend festhalten kann, dass der Sith-Lord in der dritten Star-Wars-Trilogie nun wirklich kein Schwein interessiert hat.

"Zäune, Schiffsunglücke, Thomas de Maizières Konterfei: Nichts konnte die dreisten Elendsflüchtlinge aus der ganzen Welt abschrecken, und jetzt haben wir hier den Ausländersalat. Darum hat das Innenministerium Deutschlands beste Agenturen damit beauftragt, der Bevölkerung mit Werbekampagnen die neuen exotischen Zutaten bekömmlicher zu machen."
Ja, 2015 fiel es uns noch einigermaßen leicht, das Topthema Flüchtlingskrise satirisch zu verarbeiten, was uns – in diesem Fall Moritz Hürtgen, Tim Wolff und mir – hier ganz ordentlich gelungen ist, wie ich auch zehn Jahre später noch finde. Mindestens zwei Mal haben wir diesen Artikel vor affirmierendem Publikum vorgetragen. Visuell ansprechend (Gestaltung: Martina Werner) ist die Strecke obendrein geraten. Stimmt es also doch, was ich so oft höre: "Das müssen doch herrliche Zeiten für Satire sein!"? Nein.


In den Zehnerjahren hatte der Craftbier-Hype seinen Höhepunkt erreicht, und da hatte ich folgende Idee für eine Anzeigenparodie:


Wenige Wochen später schickte uns die Brauerei Oettinger einen Kasten ihres Pilseners (oder waren's gar mehrere?) nebst freundlich-launigem Anschreiben. Nett! Von mir aus hätte OeTTINGER (Eigenschreibweise) ruhig ein eigenes Craftbier auf den Markt bringen können, gegen eine kleine, faire Gewinnbeteiligung, versteht sich.

Völlig vergessen hatte ich, dass Chefredakteur Wolff in dieser Ausgabe sich anschickte, nach den erfolgreichen Wurst-Werbeseiten der Schmitt/Sonneborn-Ära eine neue titanische Imagekampagne für ein urdeutsches Grundnahrungsmittel zu lancieren.


Weiteres Notierenswertes
- Armin Laschets Klausurenaffäre! Wer erinnert sich noch daran? In den "Briefen an die Leser" kann man alles nachlesen (S. 8-9).
- Eine Wohltat war es, im Folgemonat nach Michael Ziegelwagners Weggang nicht auf ihn verzichten zu müssen. Sein halbseitiger Beitrag "Neues aus der Dioskurenforschung" (S. 11) kann als Vorläufer der bis heute fortgeführten, lediglich ein paarmal den Namen gewechselt habenden "Naturkritik" verstanden werden.
- Wie ich oben schrieb: Man muss gelegentlich versuchen, jüngere Leserschichten anzusprechen. Ebendies taten Leo Fischer und Moritz Hürtgen mit einer todenhöferschen Fake-Reportage mit dem Berliner Rap-Trio KIZ als Gästen (S. 24ff.). Rätselhaft-bizarr.
- Das dürften heute auch nur noch Titanic-Historiker wie ich wissen: Erst- und einmalig konnte für diese Ausgabe Julia Trompeter verpflichtet werden. Die erfolgreiche Schriftstellerin machte für uns einen Selbstversuch mit dem Ernährungstrend Paläo (S. 36-38)!
- Jenes Diättagebuch ist Teil eines Food-Spezials, in welchem ein weiteres unserer beliebten Expertengespräche stattfand (Thema: Frühstück).

Schlussgedanke
Wieder ein sehr formenreiches Potpourri. Ein schönes Sommerheft.

Dienstag, 24. Juni 2025

Ade, Großstadthölle! Servus, Berge!

So, ich lebe jetzt im Hochtaunus.




*record scratch* Wie es dazu gekommen ist, fragt ihr euch? Nun, durch eine Mischung aus Glück, Entschlossenheit und Durchhaltevermögen. Vorausgegangen waren dem Umzug neun Monate des beschwerlichen, kräftezehrenden, frustrierenden Suchens. Dass die Kaputtheit des Wohnungsmarktes in Großstädten besonders deutlich spürbar ist, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Aber selbst im erweiterten Umland von Frankfurt ist es heute so gut wie unmöglich, ein halbwegs menschenwürdiges Zuhause zu finden. Der Suchradar im Online-Immobilienmarktplatz der Wahl war dementsprechend auf zahlreiche Kreise bevorzugt im grüneren Teil des Rhein-Main-Gebiets ausgedehnt worden.

Denn feststand: "Mainhattan" musste es nicht länger sein. Wenn nicht gar durfte. Begeistert und optimistisch hatte ich mich dort einst niedergelassen, war stets bereit, die amerikanischste aller deutschen Citys gegenüber von ihr Abgeschreckten zu verteidigen: Das nächtliche Glitzern, das internationale Flair, die Museen, die Parks, die Buchmesse, politisch stabile Leute, Grie Soß, Apfelwein, das hat schon was. Zuletzt jedoch zermürbte mich die zusehends schmutziger, lauter und gefährlicher werdende Stadt nur noch. Wenn ich aus dem Urlaub oder von einem Kurztrip zurückkehrte, stieg in mir die Beklommenheit und Abscheu, je mehr ich mich Frankfurt näherte, und kam ich dann im Hauptbahnhof an, schrumpfte mein Lebenswille zu einem durchgekatschten Kaugummi zusammen.

Nach 14 Jahren Frankfurt-Bockenheim nun also Königstein im Taunus. Genauer: Falkenstein, ein Stadtteil, der das Gütesiegel "heilklimatischer Kurort" trägt, und zwar, wie man nicht müde werden darf zu erwähnen, unabhängig von der Einstufung Königsteins, "eine bundesweit einzigartige Konstellation, dass ein Stadtteil einer Kurstadt über eine eigenständige Prädikatisierung verfügt" (Wikipedia). Auch über eine eigene Burg verfügt das 2700-Seelen-Nest, ich sehe sie, wenn ich aus dem Küchenfenster schaue. Zusammen mit der Burg Kronberg und der Burg Königstein (s. Foto oben) bildet sie die Eckpunkte des Drei-Burgen-Wegs. Überhaupt, die Wandermöglichkeiten! Zu Startpunkten von Ausflügen müssen ab sofort keine Anfahrten mehr zurückgelegt werden, denn diese entfallen, wenn die eigene Adresse quasi der Ausgangsort ist. (Sie sind freilich nicht aus der Welt, denn den Odenwald, den Vogelsberg, das Mittelrheintal usw. möchte ich auch in Zukunft nicht vernachlässigen.) Drei Schwimmbäder sind fußläufig zu erreichen, man begegnet jeden Tag faszinierenden Greifvögeln, es bieten sich spektakuläre Blicke auf die Skyline, und so sehen Teile meiner möglichen Arbeitswege aus:




Dank der guten ÖPNV-Erschließung hier oben habe ich Tag für Tag die Wahl, ob ich eine längere oder eine kürzere Strecke gehe, um mich mit einem Bus zu einer S-Bahnhaltestelle bringen zu lassen, von wo aus ich zum Frankfurter Westbahnhof fahre, in dessen Nähe ich nach wie vor als Titanic-Redakteur tätig bin – und wo sich meine Ex-Wohnung befindet (das vormittägliche Ankommen fühlt sich im Moment noch ein wenig bittersüß an; umso süßer ist es, abends der ungeliebten Pfui-Metropole den Rücken zu kehren).

Den Luxus eines fünfminütigen Arbeitsweges aufzugeben, habe ich gern in Kauf genommen. Je nachdem wie ich meine Pendelroute gestalte, kann ich entweder länger lesen oder länger durch die Natur spazieren – eine von zweien meiner liebsten Freizeitbeschäftigungen ist somit zwangsläufig Bestandteil eines gewöhnlichen Tages in meinem Leben! Klar, ich will nicht ausschließen, dass ich irgendwann einmal, vielleicht im Winter, Unlust beim Verlassen des Hauses empfinden werde. Bis es soweit ist, erfreue ich mich aber an meiner neuen Heimat.





Zum Schluss müssen wir freilich noch über den Elefanten im Raum reden. Jedes Mal, wenn ich jemandem erzähle, in welcher Gegend ich aufgeschlagen bin, höre ich Sätze wie "Oha, der feine Herr!" oder "Sind da nicht die ganzen Reichen?". Ja, Königstein ist die Gemeinde mit der höchsten Millionärsdichte Deutschlands. Ja, in meiner Umgebung stehen Häuser, die man mit dem Ausdruck Villa abwerten würde. Aaaaber erstens teile ich mir die Miete mit einer zweiten Person (richtig, Zusammenziehen war der Hauptgrund für den Wohnsitzwechsel), zweitens sind die Quadratmeterpreise in Frankfurt derart durch die Decke geschossen, dass man inzwischen von einem "Speckkern" statt von einem "Speckgürtel" sprechen müsste! Eine Querstraße von meiner ehemaligen Wohnung weiter zahlt man 1600 Euro kalt für zwei Zimmer. Mietspiegel, oh weh! Kronberg und Oberursel standen übrigens ebenfalls auf unserer Wunsch- und Bewerbungsliste. Dort wie hier trifft man bodenständige, sympathische Menschen.

Sonntag, 22. Juni 2025

Bienenlöwe revisited

Letzte Woche habe ich mir im Museum Wiesbaden die famose, inzwischen beendete Ausstellung "Honiggelb – Die Biene in der Kunst" angesehen. Das beliebteste Motiv mit Bienenbezug in der Kunstgeschichte scheint Amor als Honigdieb mit seiner Mutter Venus zu sein; in zig Interpretationen begegneten mir die beiden auf Gemälden und Zeichnungen. Unter den vielen sonstigen beeindruckenden, kuriosen, anregenden Werken stach (!) mir eins besonders ins Auge – weil ich das darin Dargestellte einst in ganz anderem Kontext kennengelernt habe: "Samson findet Bienen im toten Löwen" von Cornelis Massys (1549), dieselbe Szene wie auf dem Golden-Syrup-Logo.


"Die Vorstellung, dass Lebendiges aus Totem entsteht", erklärte der Begleittext, "war in der Antike weit verbreitet: Diese Urzeugung (Bugonie) meint, dass Bienen aus getöteten Rindern entstehen. Das Christentum deutetet dies als Bild für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele." In der Nähe von Massys' Kupferstich/Radierung war Cornelis Corts Werk "Aristaeus Inventor Mellis" (1565, nach Frans Floris) aufgehängt und zeigte den "ersten Imker der Antike" (daher der Titel "Erfinder des Honigs"). Jenem soll "die Entstehung eines Bienenvolkes aus dem Kadaver eines toten Rinds" als Erstem geglückt sein. Zwischen Simson/Samson und Aristaios besteht freilich ein Unterschied: Letzterer soll die Bugonie gezielt herbeigeführt haben (wie?), während Simsons Löwenschwarm eine Zufallsgenese war.

Freitag, 20. Juni 2025

Fragen, die ich mir selbst stelle

Heute: Darf Foie gras in Deutschland verkauft werden?

Im Grunde kenne ich die Antwort seit dieser Woche, denn da habe ich in einem Kühlregal bei Edeka gleich mehrere Sorten von Foie gras gesehen, und ich gehe davon aus, dass Edeka nicht gegen geltendes Recht verstößt. Ich hatte allerdings im Hinterkopf gespeichert, dass der Handel mit Stopfleber hierzulande ebenso untersagt wäre wie die Herstellung derselben. Nun sagt mir Google: Zwar ist das Zwangsfüttern von Tieren in vielen Ländern Europas, darunter in Deutschland, sehr wohl verboten, jedoch darf die auf solche Weise "verfeinerte" Innerei von Frankreich, wo diese Grausamkeit als TrAdiTiOn verbrämt und als schützenswert erklärt wurde, nach Deutschland importiert und in den Handel gebracht werden.

"Eigentlich dürfte die Herstellung von Stopfleber in einem EU-Mitgliedsstaat kein Thema sein. Die EU-Richtlinie 98/58CE (insbesondere Anhang 24 zu Art.4) verbietet die Produktion von Stopfleber bereits seit 1999. Danach darf die Art des Fütterns bei Tieren 'keine unnötigen Leiden oder Schäden' verursachen. Die Richtlinie lässt jedoch Ausnahmen zu und muss darüber hinaus nicht zwingend umgesetzt werden. Schlussendlich liegt es am freien Binnenmarkt, dass der Import von Stopfleber innerhalb aller EU-Staaten weiter zugelassen wird. Deshalb wird auch in Deutschland immer noch Stopfleber verkauft. Um sich weiter abzusichern, erklärte Frankreich im Jahr 2005 Foie Gras sogar zum nationalen und gastronomischen Kulturerbe." (LTO)

Warum ist mir das Zeug bisher noch nie in deutschen Kaufhallen begegnet? Wahrscheinlich ist es wirklich eine Seltenheit, die Nachfrage potentiell gering. Tatsächlich befindet sich die erwähnte Edeka-Filiale in einer Gegend, wo man noch am ehesten die entsprechende Klientel findet ...

Mittwoch, 18. Juni 2025

Üro, üro

Nachdem ich vor ein paar Jahren Harald Jähners glänzende Nachkriegsschilderungen "Wolfszeit" verschlungen habe, lese ich nun endlich sein 2022 erschienenes Portrait "Höhenrausch: Das kurze Leben zwischen den Kriegen". In dem Kapitel "'Schicksale hinter Schreibmaschinen' – Die Trägerschicht der Neuen Zeit" geht es am Rande auch um ein "Bürodeutsch", das in der Weimarer Republik zum Teil eigentümliche Blüten trieb:

In Martin Kessels Büroroman "Herrn Brechers Fiasko" grassiert eine alberne Bürosprache, mit der die Sekretärinnen der Langeweile des Jobs und den Zumutungen ihrer Chefs trotzen. Jeder Satz wird dabei mit einem affektierten "ü" beendet. "Man sagte nicht mehr: 'Haben Sie einen Bleistift?' – sondern man sagte: 'awa en bleie, ü?'. Oder man sagte zu einer Sache, die eilig war: 'ette, ette, ette, ü?'" [...] Mit den Frauen hatte sich die Büro- und Verwaltungssprache geändert. Ursächlich dafür aber waren nicht sie, sondern die Schreibmaschine. Erst mit ihr zog die Umgangssprache in die Buchhaltung ein und löste die alten Fachbegriffe und Kürzel ab, mit denen die klassischen Buchhalter handschriftlich für Kürze und Exaktheit gesorgt hatten. Denn die Schreibmaschine eröffnete den Kaufleuten die Möglichkeit, den Schreibkram zu delegieren, und machte ihre alten, professionellen Codes obsolet. "Mit dem Eindringen der weiblichen Schreibkraft in das Büro, mit dem Sinken des kaufmännischen Niveaus verschwand das 'Rottwelsch des Kaufmanns' allmählich", stellte der Sozialwissenschaftler Theo Pirker fest. Allerdings ging der empfundene Niveauverlust nicht auf das Konto der Frauen, sondern auf das der oft fahrig diktierenden Chefs: "Schritt für Schritt verschwanden die Abkürzungen. Unglücklicherweise erhielt sich die blühende und leere Phrase. (...) Geschäftsleute, die nun der Mühe enthoben waren, ihren Brief selbst zu schreiben, und die nun nicht mehr Gefahr liefen, Tintenkleckse zu machen, verfielen in eine Reihe schlechter Gewohnheiten und hauptsächlich in die, einen Satz zu beginnen, ohne zu wissen, wie er enden wird."

So weit, so bemerkenswert. Nichts damit zu tun habend, aber nicht minder bemerkenswert: Einen Absatz weiter begegnete mir ein Unternehmen, das in einer meiner vorangegangenen Lektüren eine Rolle spielte: Westinghouse!

Die Organisationsbranche wuchs genauso sprunghaft wie die Papierberge in den Betrieben und die Angestelltenheere, die zu ihrer Anfertigung und Bändigung nötig waren. Als in den USA 1948 die Firma Westinghouse ihr Ablagesystem rationalisierte, schaffte sie insgesamt vierhundertzwanzig Eisenbahnwagen voller Akten aus ihren Gebäuden, in der sicheren Annahme, dass niemand mehr etwas davon würde lesen wollen, schon allein, weil die Hoffnung fehlte, in den Unmengen von Informationen das Gesuchte zu finden.


Montag, 16. Juni 2025

Kurz notiert: Laborausfall

Aus meine Lebensumstände betreffenden Gründen komme ich derzeit nur eingeschränkt zum Bloggen, daher heute nur dies: Die Rubrik "Sprachlabor", auf die ich mich hier schon oft bezogen habe, hat in der Samstagsausgabe der Süddeutschen Zeitung gefehlt! Eben blättere ich durch die Wochenendpostillen, freue mich schon, als ich das Ende von Buch 2 der SZ erreiche, jedoch: kein "Sprachlabor". Macht Hermann Unterstöger Urlaub? Ist er krank? In Rente gegangen (er ist Jahrgang 1943)? Dann soll er das doch an der Stelle, an der normalerweise seine Glosse steht, kundtun, z.B. so: "Aus meine Lebensumstände betreffenden Gründen komme ich derzeit nur eingeschränkt zum Kolumnieren." Sollte er selbst nicht dazu in der Lage sein, muss halt jemand Verantwortliches aus dem Haus eine Erklärung abgeben. Das erwarte ich als enttäuschter (und ein wenig besorgter) Leser!

Donnerstag, 12. Juni 2025

Vorspeise: Oxenschwanzsuppe?

Ich bin offenbar schon so stark im Süden der Republik (nun gut: in der unteren Hälfte Deutschlands) verwurzelt, dass ich ungläubig die Kamera zückte und dieses Wort fotografierte, weil ich es für falsch geschrieben hielt:


Mit "Ein Fall von 'Durchs Lektorat gerutscht'" oder ähnlich hätte ich diesen Beitrag betitelt, wenn ich nicht zur Sicherheit nachgeschlagen hätte, ob Hachse nicht tatsächlich eine erlaubte Alternativschreibung zu der mir vertrauten Haxe darstellt. Ist sie! Sowohl der Duden als auch die Wikipedia kennt sie. In welchem Buch ich den Fund machte, weiß ich nicht mehr. Was mich jetzt aber wundert: Wenn die Autorin oder der Autor schon die "hochdeutsche" Schreibweise bevorzugt, wieso verwendet sie/er dann das für den süddeutschen Sprachraum bei solchen Komposita typische Fugen-s: "Schweinshachse" statt "Schweinehachse"?