Montag, 9. November 2020

Auf der Suche nach dem verlorenen Teilchen

Wusstet ihr, dass Marcel Prousts À la recherche du temps perdu nicht nur unter dem Titel "Remembrance of Things Past" ins Englische übersetzt wurde, sondern auch als "In Search of Lost Time"? Also ich nicht! Bei mir hat auch noch nie eine Madeleine lange Assoziationsketten ausgelöst, über die ich schreiben könnte, dafür aber muss ich seit vergangener Woche anlasslos an Mandarinen-Quarkplunder denken, und zwar konkret an jene, die es im Café der Neuen Mensa meiner Alma Mater zu kaufen gab. Wenn ich zwischen der 4. und der 6. Doppelstunde, also zwischen 14.30 und 16.40, keine Lehrveranstaltung hatte, aber auch keine Lust, nach Hause zu gehen (was ich hätte tun können, denn ich wohnte nur zehn Fahrradminuten vom Campus entfernt), holte ich mir in ebenjener Cafeteria oft eine Tasse Kaffee und dazu einen Mandarinen-Quarkplunder, setzte mich an einen Tisch, las irgendwas (nicht Proust) und vesperte gemütlich. Manchmal kam das Gebäck frisch aus dem Ofen, warm schmeckte die Quarkfüllung noch köstlicher.

Inzwischen ist das ganze Mensagebäude leer und verschlossen, der Betrieb stillgelegt, und ich wohne eh in einer anderen Stadt. Diese schönen Nachmittage werde ich mithin nie wieder nacherleben können, allein in meiner immer blasser werdenden Erinnerung. Wir befinden uns in der Ära der Ablenkung, der Dauerbeschallung und des Eindrucks-Overflows, so dass uns droht, zu vergessen, hin und wieder nichts zu tun als in uns zu gehen und Vergangenes zu rekapitulieren, Momente des Glücks gedanklich nachzuspielen. Schreiben hilft auch – selbst wenn dann aus einem Stück Zwieback eine Madeleine wird oder werweiß aus einem Plunder ein Krapfen.

Themenwechsel! Gustave Flauberts Roman Éducation sentimentale erfuhr kürzlich eine Neuübersetzung ins Deutsche durch Elisabeth Edl und heißt jetzt "Lehrjahre der Männlichkeit". Die Frage der Süddeutschen Zeitung, ob das ein "Auswuchs der Genderdebatte" oder ein "philologischer Scoop" sei, interessiert mich weniger als folgende Passage aus dem dazugehörigen Artikel: "Das Problem liegt schon im Titel des Originals begründet, einem Titel, um den Flaubert lange gerungen hatte, dem aber schon Marcel Proust in seinem bahnbrechenden Essay über den Stil Flauberts attestiert hat, dass er 'grammatisch' inkorrekt sei." Wer kann mir erklären, was es mit diesem Vorwurf auf sich hat und wieso "grammatisch" in Anführungszeichen steht? Im engeren Sinne scheint es mir grammatisch korrekt zu sein: éducation ist ein feminines Substantiv im Singular und das Adjektiv sentimentale dazu astrein kongruent. Ich muss an dieser Stelle betonen, dass ich meine letzte Französisch-Lektion nicht mal in der Uni, sondern in der Schule hatte, und so weit möchte ich nun wirklich nicht zurückdenken!

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