Samstag, 11. Oktober 2025

Zwei gute Zitate über Literatur

"Wir schrieben weder wegen des romantischen Schriftstellerlebens – die Wirklichkeit ist eine Karikatur davon – noch für Geld – das wäre Selbstmord –, noch für den Ruhm – ein überkommener Wert, den unsere Zeit durch Berühmtheit ersetzt hat –, noch für die Zukunft – sie hat uns nichts aufgetragen –, noch um die Welt zu verändern – es ist nicht die Welt, die verändert werden muss – oder um das Leben zu ändern – es ändert sich nie –, auch nicht aus Engagement – das überließen wir lieber den Schriftsteller-Heroen –, so wenig, wie wir die zweckfreie Kunst feierten – die eine Illusion ist, denn irgendetwas leistet Kunst immer. Aus welchem Grund also schrieben wir? Wir wussten es nicht, und das war vielleicht unsere Antwort: Wir schrieben, eben weil wir es nicht wussten, wir schrieben, um auszudrücken, dass wir nicht mehr wussten, was wir auf der Welt anderes tun sollten als zu schreiben, ohne Hoffnung, aber ohne uns einfach damit abzufinden, unbeugsam, mit Freude und bis zur Erschöpfung, mit dem einzigen Ziel, so gut wie möglich daraus hervorzugehen [...]"

--- Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

"Unter Literaturgattungen herrscht eine brutale Hierarchie. Es gibt Versepen, Gesänge und tausendseitige Gesellschaftsromane, die alles überdauern. Es gibt unsterbliche Dramen, deren Personal unverwüstlich durch die Zeiten schreitet. Und natürlich Lyrik, die dem Wort unsterblich einen tieferen Sinn verleiht.
Aber dann gibt es eben auch die kleineren Formen, die keine allzu lange Lebensdauer haben. Eintagsfliegen aus Worten. Wie zum Beispiel den Schüttelreim, diesen Nichtsnutz, dessen Reimzwang sich so eng um seinen Inhalt schlingt wie ein Judogriff und der es nie so weit gebracht hat wie sein hochbegabter großer Bruder, der Haiku, der als runder Kiesel auf dem Grund des Baches rollt oder sich als Nebelschwade im Wipfel eines Ginkos verfängt.
Von allen literarischen Spielarten am meisten missachtet scheint mir aber unzweifelhaft die Anekdote zu sein. Keiner weiß so recht, was sie eigentlich sein soll. Ist sie kurz, oder darf sie auch etwas länger sein, muss sie immer amüsant sein, oder gibt es sie auch ernsthaft? Sogar der Witz hat es da besser erwischt. Der Witz weiß immer, wo er hinwill, geradewegs zur Pointe. Ist der Wesenskern einer Anekdote ihre mündliche Wiedergabe, oder kann sie es unbeschadet in die Verschriftlichung schaffen? Liest man nach, was eine Anekdote sein soll, stößt man auf folgende Definition:
Die wichtigste Eigenschaft einer Anekdote ist, dass sie 'treffend' ist.
Was wäre nun in einer Geografie der literarischen Formen die Anekdote? Ich wage zu behaupten: eine winzige Quelle, aus der ununterbrochen, seit Anbeginn der Zeit, das klarste Wasser sprudelt. Müde und ausgelaugt vom Besteigen literarischer Achttausender kann man sich hier erfrischen und kurz verweilen."

--- Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen

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