Sonntag, 18. Juli 2021

Oui, je regrette quelque chose

Die Zeiten sind schlimm. Wir befinden uns ganz sicher nicht in der besten aller möglichen Welten. Leibniz hatte unrecht. Der Untergang unseres (derzeitigen) Heimatplaneten ist ununmkehrbar, und sollte die Menschheit in ein paar Jahrzehnten nicht durch Naturgewalten, Krieg oder mutierte Sars-Stämme an den Rand der Existenz gedrängt worden sein, so wird sich eine Katastrophe darum kümmern, die wir jetzt noch gar nicht auf dem Schirm haben. Wenn es einem gegeben ist, diese kommenden paar Jahrzehnte mitzuerleben (so wie ich hoffentlich), kann man sich eigentlich nur mit dem Fakt trösten, dass uns dabei ganz gute Unterhaltungsmedien zur Verfügung stehen. Und mir persönlich, das muss ich halt unumwunden zugeben, war bisher auch die ein oder andere glückliche Fügung vergönnt. Wenn ich in munterer Abwechslung die fünf Kübler-Ross'schen Verarbeitungsphasen durchlebe, tue ich das in Hinblick auf das globale Schicksal und weniger auf meine Biographie, und gleichwohl ich mich hin und wieder eingedenk vergangener Tiefschläge in Selbstmitleid suhle, halte ich mir stets vor Augen, dass 90 % der Erdenbürger schlechter dastehen (werden) als ich. Vor allem ist meine Devise: Selbstmitleid ist erlaubt, aber Reue ist fehl am Platz. Alles, was in meinen bald 40 Lenzen nicht ganz einwandfrei gelaufen ist, ergab sich aus Zufällen und Verwicklungen, die außerhalb meiner Gewalt lagen. Höhere Mächte waren schuld! Ich habe mir nichts vorzuwerfen, jede meiner Entscheidungen habe ich weise und gründlich abgewogen. Würfe man mich in die Vergangenheit zurück, ich täte kaum was ändern. Oder doch? Über diese Frage habe ich sehr lange sehr intensiv nachgedacht, und ja: Es gibt tatsächlich Dinge, die ich bereue. Drei, um genau zu sein. Dreimal bin ich falsch abgebogen, dreimal hätte ich mich im Nachhinein zu gern anders entschieden. Diese drei Dinge habe ich – für mich, für alle – aufgeschrieben. *tief durchatm*

1.) Im Jahr 2009 hätte ich mir in Ägypten einen Anzug maßschneidern lassen sollen. Meine Mitreisenden und ich waren im Rahmen einer jener typischen "Sightseeing"-Touren, bei denen immer der Besuch eines Werksverkaufs oder einer Schaumanufaktur ansteht, in einem Textilbetrieb abgeladen worden. Für nur circa 100 Euro hätten wir uns aus feinstem Stoff einen modischen Zweireiher anfertigen lassen können, aber in einer Mischung aus Genervtheit und Kursichtigkeit verzichteten wir. Dabei hatte einer aus unserer Gruppe (er absolvierte gerade ein Praktikum in Assuan) sich zuvor tatsächlich einen Maßanzug machen lassen; er warb mit Nachdruck dafür und zeigte uns das elegante und qualitiv hochwertige Stück später. Ich muss offenlegen, dass dies für mich sogar die zweite derartige Gelegenheit war! Im Vorjahr war ich in Indien gewesen und hätte mir dort ebenfalls für keine 100 Euro einen Anzug schneidern lassen können. Aber zum einen wäre sich das zeitlich nicht ganz ausgegangen, zum anderen hatte ich da noch weniger Interesse, mich chic zu kleiden. Für dieses zweimalige Ignorieren eines göttlichen Fingerzeigs wurde ich bestraft: Seitdem war jeder Anzugkauf eine Strapaze, denn ich bin, medizinisch gesprochen, eine sog. Bohnenstange, der kaum etwas aus dem Sortiment von Galeria Kaufhof & Co. passt.

2.) Vor der Pandemie wurde die Buchmesse erst durch die unzähligen Partys zum Hochfest im Frankfurter Kirchenjahr. Kein Verlag, kein Medium ließ es sich nehmen, an einem Abend der Woche zu übertriebenen Fress- und sonstigen Orgien zu laden. Zwei- oder dreimal hatte ich die Ehre, Teil des besonders pompösen FAZ-Empfangs zu sein. Auf einer dieser Feiern – ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr – blieb ich unvernünftig lange, ich hatte mich festgetrunken und konnte mich erst weit nach 3 Uhr zu einem polnischen/irischen Abgang aufraffen. Als ich die für das Event angemietete Luxusvilla verließ, passierte ich den Einlass-Stehtisch, welcher zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bewacht wurde. Darauf lag: die Gästeliste, und zwar nicht nur eine Liste von Namen, sondern ein Index aller Geladenen mit Telefonnummern und E-Mail-Adressen! Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass die FAZ sich in Sachen Networking und Prominenz-Kontakten nicht lumpen lässt. Auf der Liste standen schil-lern-de Persönlichkeiten, einige hatte ich vorher gesehen; ich rede hier von VIPs mit Bekanntheitsgraden von bis zu 100 Prozent (hierzulande). Doch anstatt die unbezahlbaren A4-Blätter einzustecken, ließ ich Ochsenkopf sie liegen und wankte von dannen. Nun gut, mag man einwenden, was kann man mit so einer Liste schon anstellen abgesehen von Belästigung und Erpressung? Ach, mir wär' bestimmt was eingefallen!

3.) Auf einem Flug von Italien nach Deutschland oder umgekehrt saß ich wenige Reihen hinter der unerträglichsten, selbstgerechtesten und garstigsten Person, die man sich vorstellen kann. Diese Frau, eine Mutter Mitte bis Ende 30, konnte nicht anders, als die restlichen Passagiere unentwegt mit ihrem so hässlichen wie substanzlosen Geschnatter zu "unterhalten". Wirklich jede Hirnregung musste sie verbalisieren, während ihr Partner die ganze Zeit passiv und schweigend mit sich selbst beschäftigt war, was mich nicht minder aufregte. Ein Beispiel, das bis heute hängen geblieben ist: Nachdem sich die Familie platziert hatte, wollte die Frau noch etwas aus dem gerade erst im Overhead-Compartment verstauten Handgepäck holen, was freilich lauthals angekündigt wurde. Weil mehrere Einsteigende es wagten, ihren Sitz noch nicht erreicht zu haben, blaffte die Ekelhafte nun: "Jaaaa, lassen wir erst mal die ganzen Schwachmaten hier vorbei!" Am liebsten hätte ich mich erhoben und geschrien: "Mein Gott, können Sie eventuell einen einzigen Ihrer unnützen Schrottgedanken für sich behalten?! Ich wünschte, wir würden abstürzen, nur damit sich niemand mehr mit Ihnen herumzuplagen hat!" Freilich hielt ich mich in Zaum, wollte ich doch nicht enden wie Adam Sandler zu Beginn des Films "Die Wutprobe". Ich hielt mich zurück und ließ das zwei Stunden anhaltende Geblubber und Gespeibe über mich ergehen. Nach der Landung, beim Verlassen des Flughafens, lief ich zufällig an ebenjener dreiköpfigen Familie vorbei. Sie war damit beschäftigt, ihr Mitnahmegepäck neu zu sortieren oder was, jedenfalls stand ein Rollkoffer hochkant in der Gegend rum. Wie in Trance bewegte ich mich auf das Gepäckstück zu, kam ihm gefährlich nah und war kurz davor, es mit einem beherzten Tritt umzustoßen ... Ich beherrschte mich, stellte mir aber im selben Moment vor, welche Möglichkeiten der Sabotage es noch geben könnte. Sollte ich mir ein klebriges Kaltgetränk besorgen und es "aus Versehen" über dem Koffer entleeren? Sollte ich einen Kaugummi in die Bagage kleben? Oder, viel naheliegender, mich direkt an der Haupttäterin rächen, sie schubsen, ihr eine Pizzazunge auf die Frisur klatschen, sie für ein ausgedachtes Drogendelikt beim Zoll anschwärzen? Heute denke ich, mit einem Milchshake zu stolpern und die Garderobe der Teufelin zu ruinieren, wäre das Richtige gewesen. Oh, hätte ich bloß!

Tja, und deswegen liege ich manchmal nachts wach und ärgere mich.

1 Kommentar:

  1. rofl, rofl!

    Wir befanden uns damals in einer besseren Zeit als heute. Aber...

    rofl, rofl!

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