Mittwoch, 23. März 2022

Das große Ganze im Gerichtssaal

Am 11.8.1924 übte ein Schutzpolizist in Berlin-Mitte seinen Dienst alkoholisiert aus und pöbelte bei seinem Rundgang zuerst zwei unbescholtene Frauen an, die gerade ihr Zigarrengeschäft abschlossen, später zwei Burschen. Einem von ihnen rief er zu: "Sie kenne ich schon lange!" Der derart provozierte junge Mann "wollte aufbrausen, wurde aber beruhigt und ging weiter. Nach ein paar Minuten kam es dennoch zwischen ihm und dem Polizisten zu einer derben Prügelei."

Hätte sich dieser Vorfall knapp 100 Jahre später ereignet, kann man sich ausmalen, was passiert wäre: Ein Verfahren gegen den Polizisten wäre eingestellt worden (wenn es überhaupt eingeleitet worden wäre), im Gegenzug hätte der Zeuge mit einer Anzeige wegen Widerstands oder tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte rechnen müssen.

Wie aber ging es damals weiter? Der Schutzmann wurde angeklagt und – trotz Deckung durch seinen Kollegen, der ihn am Tattag begleitet hatte – verurteilt: "Das Gericht ging denn auch weit über den Antrag des Staatsanwalts hinaus. [...] Dem Angeklagten [...] sei seine Bezechtheit nur strafschärfend anzurechnen. Die Beamtenschaft müsse vom Vertrauen des Volkes getragen sein, und Beamte, die dieses Vertrauen mißbrauchen, müssen scharf angepackt werden: drei Monate Gefängnis." Und jetzt kommt's! "Aber der Angeklagte habe auch die Äußerung getan: 'Sie kenne ich schon lange!' Eine solche Redensart sei im Munde eines Schutzmannes eine Beleidigung, denn der Angeklagte habe damit ausgedrückt, daß der Zeuge schon mehrfach mit der Polizei in Konflikt geraten sei. Dies aber sei nicht der Fall, und so habe auch wegen Beleidigung eine Bestrafung erfolgen müssen: 50 Mark Geldstrafe."

So kann man es nachlesen in den gesammelten Prozessberichten von Paul "Sling" Schlesinger (Der Mensch, der schießt. Berichte aus dem Gerichtssaal, Lilienfeld Verlag 2013). Die Gerichtsreportage ist nicht nur als literarische Gattung wertvoll, sondern auch und vor allem als Zeitdokument kaum zu überschätzen. Dass in den Zwanzigern beileibe nicht alles golden war, kann man aus Schlesingers scharfen Beobachtungen ebenso mitnehmen wie die Erkenntnis, dass in der jungen Demokratie doch einiges möglich war, was man sich im 21. Jahrhundert kaum vorstellen kann. 

Ein vergleichbares Werk lese ich gerade: Gabriele Tergits Vom Frühling und von der Einsamkeit (Schöffling & Co. 2021). Die darin versammelten Reportagen aus den Gerichten entstanden ebenfalls im Berlin der Weimarer Zeit und sind m.M.n. noch aussagekräftiger hinsichtlich des Zustands der Republik, der ja allzu oft mit dem heutigen parallelisiert wird. Ein Beispiel aus dem Jahre 1926. Auf der Anklagebank sitzt ein "schmaler, dünnlippiger, grauhaariger Herr", der eine Pistole ohne gültigen Waffenschein besessen haben soll. Die Waffe habe er noch aus seiner Zeit bei der Wehrmacht, für deren Angehörige die entsprechende Vorschrift von 1919 nicht gelte. "Richter: Doch. Sie erlangte durch Veröffentlichung im 'Reichsgesetzblatt' Gesetzeskraft. - Angeklagter: Das beweist nichts. Die Nationalversammlung hatte recht de facto, aber nicht de jure. [...] Ich fühle mich nicht gebunden an Verordnungen der Herren Volksbeauftragten, der Herren Novemberlinge [...]" Na, erinnert das nicht frappant an jene selbsternannten "Reichsbürger", die heute ständig die Justiz nerven?

Was mir ins Auge springt, ist das häufige Vorkommen von Kampfverbänden, guerillaesken Milizen, Umstürzlern und sonstigen bewaffneten oder unbewaffneten politischen Organisationen. Ich bin erst bei einem Drittel des Tergit-Buches angelangt, und bisher wurden schon erwähnt:
- die Bismarck-Bündler: rechtsnationaler, paramilitärischer Verband
- "Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten", größter Kampfbund der "Nationalen Opposition"
- das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund aktiver Demokraten, 1924 von den drei Parteien der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) gegründeter Wehrverband zum Schutz der Republik
- die Schwarze Reichswehr: Paramilitärische Formationen, die unter Bruch des Versailler Friedensvertrages von der Reichswehr unterhalten oder gefördert wurden
- die Organisation Consul: 1920 gegründet, nationalistischer und antisemitischer Kampfbund mit dem Ziel, eine Militärdiktatur zu errichten
- der Spartakusbund 
(op.cit., Anhang "Anmerkungen").

Und das ist dann ein augenfälliger Unterschied zu den 2020er Jahren: Bei allen alarmierenden Entwicklungen gehören Straßenkämpfe widerstreitender Gruppierungen nicht zum bundesdeutschen Alltag.

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