Mittwoch, 9. März 2022

Durchs musikhistorische Kaninchenloch

Wird dies ein weiterer Beitrag, der mit "Neulich habe ich in einem Podcast gehört ..." / "Gerade lese ich in einem Buch ..." o.ä. beginnt? Pah, nein! Dieser Beitrag beginnt mit "Gerade habe ich" ... aber lest selbst:

Gerade habe ich beim gedankenverlorenen Schreddern (darüber demnächst mehr) "Goodnight, Ladies" vor mir her gesungen, da fiel mir ein, dass ich dieses Lied 1.) aus der Schule kenne und es deswegen meiner fortlaufenden Liste von Liedern, die wir in der Schule gesungen haben, hinzuzufügen ist, und es 2.) dieselbe Melodie hat wie der deutsche Gaudi-Hit "Rucki Zucki"! Sodann habe ich den Wikipedia-Artikel zu "Goodnight, Ladies" aufgerufen und erfahren, dass der Song auf ein Volkslied namens "Farewell, Ladies" von 1847 zurückgeht, in seiner bekannten Form aber Edwin Pearce Christy zugeschrieben wird und 1867 veröffentlicht wurde. Und jetzt wird's unangenehm: Christy war der Gründer der Blackface-Gruppe "Christy's Minstrels" und hat das Lied eigens für deren Minstrel-Shows adaptiert. Da darf man durchaus fragen, ob das deutsche Cover "Rucki Zucki" unbedingt von jemandem namens ... Ach, egal.

Im 20. Jahrhundert gründeten sich dann jedenfalls "The New Christy Minstrels", die nach lediglich einer kurzen Unterbrechung in den Siebzigern bis heute aktiv sind und sich zwar namentlich explizit auf die Original-Truppe berufen, gottlob aber nicht mit Schuhcreme im Gesicht auftreten. Viele ihrer populären Singles können nicht anders denn als schmissig bezeichnet werden, beispielsweise der "Song of the Pious Itinerant (Hallelujah, I'm a Bum)", den man aus der Serie "The Leftovers" kennen könnte. Als vor zwei Jahren die amerikanische Country-Legende Kenny Rogers verstarb, sagte ich "Ach, guck an!", nachdem ich gelesen hatte, dass Rogers ein Mitglied der New Christy Minstrels gewesen war.

Ebenfalls noch aktiv sein könnte der australische Liedermacher Rolf Harris (* 1930). Warum "könnte", darauf gehe ich gleich ein. Ich ließ kürzlich den Tag ausklingen, indem ich mich durch die Diskographie des Sängers und Kinderfernsehmoderators lauschte, der mit dem "wobble board" ein eigenes charakteristisches Instrument erfunden hat und dessen wirklich charmanter Ohrwurm "Tie Me Kangaroo Down, Sport" lange als heimliche Hymne Australiens galt. Warum also kannte ich diesen berühmten Mann nicht? Auf Wikipedia schlug ich es am nächsten Tag nach: "Im März 2013 war Harris einer von 12 Beschuldigten, die im Rahmen der 'Operation Yewtree' festgenommen wurden. Ihnen wurde bereits länger zurückliegender sexueller Missbrauch vorgeworfen, der allerdings nichts mit den Ermittlungen im Fall des ehemaligen BBC-Moderators Jimmy Savile zu tun haben sollte." Jesus Christ. Der letzte Nebensatz macht es eigentlich nur noch schlimmer, denn wenn extra erwähnt werden muss, dass du nichts mit dem größten Monster der britischen Mediengeschichte zu tun hattest, musst du wirklich Dreck am Stecken haben. ("Operation Yewtree" ist mir übrigens wegen der BBC-Serie "Line of Duty" ein Begriff; dass der ansonsten fiktive Stoff sich hier an abstoßende real-life events anlehnt, fand ich – und nicht nur ich – damals etwas verstörend.) Nach Anklage, Schuldspruch und Haft (mit vorzeitiger Entlassung) ist Harris' Karriere heute am Ende, seine Ehrentitel wurden ihm längst aberkannt. Ich bin gelegentlich bereit, zwischen Kunst und Künstler zu trennen, aber es gibt Grenzen.

Wie war ich überhaupt auf Rolf Harris gekommen? Nun, ich gestehe (wie vorhersehbar ich doch bin!): durch einen Podcast. Es ging um gedächtnisstimulierende Endloslieder nach dem "Ich packe meinen Koffer"-Prinzip à la "Wenn der Topf aber nun ein Loch hat". Als Beispiel wurde Harris' leider abermals sehr mitreißende Sing-along-Nummer "The Court of King Caractacus" genannt. So. Nachdem ich den Australier dann für mich gecancelt hatte, brauchte ich als palate cleanser vertraute novelty songs ohne bedenklichen Background. Ei, das waren jetzt zugegebenermaßen ganz schön viele Anglizismen, aber manchmal scheint mir die englische Sprache halt ausdrucksstärker, treffender und verspielter zu sein als die deutsche. Beweisstück A: das Œuvre des inzwischen 93jährigen Tom Lehrer. Wissenswerter Einschub für Deutschsprachige: Georg Kreislers "Tauben vergiften im Park" ist, bei gleichwertiger Existenzberechtigung, eine Coverversion von Tom Lehrers "Poisoning Pigeons in the Park". Als ich in meiner Hör-Session bei Lehrers Jahrhundertstück, dem "Elements Song", angelangt war, musste ich mir zwangsläufig – apropos Coverversion – im Anschluss den nicht minder komischen "Major-General's Song" aus Gilbert und Sullivans Oper "The Pirates of Penzance" zu Gemüte führen. Und damit schließt sich der Kreis, zumindest für heute. Denn wer findet in dem zungenbrechenden Patter song von 1879 Erwähnung? Genau: Caractacus.

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