Donnerstag, 26. Januar 2017

Brüder, zu der Sonne, zu der Freiheit

Dinge, die mir nachts um drei durch'n Brägen schwirren.

Es gibt im Deutschen bekanntermaßen die Möglichkeit, Präpositionen und bestimmte Artikel zusammenzuflanschen: zu derzur, in dasins, für dasfürs usw. Aber was heißt hier "Möglichkeit"? Ist die verkürzte Form in einigen Fällen nicht die ausschließlich zu verwendende? Handelt es sich also um viel mehr als um eine Zusammenstauchung aus Bequemlichkeit?

Der Satz "Im Tschad scheint heute die Sonne" lässt sich nämlich keineswegs durch "In dem Tschad scheint heute die Sonne" ersetzen. Warum nicht? Andersherum: Wenn es für die Wortfolge in der die Kurzform *inr gäbe, wäre dann der Satz "In der Schweiz, da schneit's" falsch? Genauso ist in gewissen Phrasen und feststehenden Wendungen wie "ins Kino gehen", "zur Armee gehen", "jemandem aufs Dach steigen" oder "beim Häuten der Zwiebel" die Kurform die einzig mögliche. 

Zu dem Glück, Quatsch: Zum Glück hat sich die Germanistik bereits mit dieser Angelegenheit beschäftigt. Vor allem Damaris Nübling ist hier zu nennen, deren Aufsatz "Von in die über in'n und ins bis im. Die Klitisierung von Präposition und Artikel als 'Grammatikalisierungsbaustelle'" viel Licht ins Dunkel bringt*. Das herrschende Durcheinander begründet sich damit, dass hier ein noch nicht abgeschlossener Prozess, eben eine – "in ihrer Diskontinuität seit Jahrhunderten stagnierende" – "Grammatikalisierungsbaustelle", vorliegt: "Manche Bereiche sind schon fertiggestellt, andere anscheinend nicht einmal konzipiert." Man muss dabei zähneknirschend feststellen, dass wir es mit einem "nur teilweise regelgesteuerten Phänomen" zu tun haben, bei welchem "die Form nicht widerstandslos der Funktion folgt".

Formen wie vorm, durchs etc. gehören zu den sog. Klitika (Grimm nennt sie "präpositionelle Anlehnung", bei Braune/Eggers ist von "Zusammenziehungen" die Rede), wobei der besagte Aufsatz zwischen "einfachen und speziellen Klitika" unterscheidet. Nur die speziellen Klitika sind es, die "nicht mehr mit ihrer Vollform austauschbar" sind. "Entweder führt der Austausch zu ungrammatischen Ausdrücken" (dazu zählt mein obiges Beispiel *in dem Tschad), "oder es ergibt sich eine andere Interpretation" ("in das Kino" gehen wird an der Stelle von "ins Kino gehen" gebraucht, wenn ein bestimmtes Kino gemeint ist, auf das sich auch irgendwo anaphorisch bezogen wird, z.B. "Sie gehen in das Kino, in dem das Popcorn immer versalzen ist."). Bei einfachen Klitika hingegen "lässt sich das Klitikon noch mit seiner Vollform austauschen" ("Ich bin gegens / gegen das Gesetz.").

Zu den Bereichen, in denen nach Nübing Klitisierung obligatorisch ist (wunderschönes Wort: "Verschmelzungszwang"), gehören neben den schon erwähnten Eigennamen und Phraseologismen/Idiomen/Funktionsverbgefügen beispielsweise Zeitpunkte (am Montag, am 4. April), Substantivierungen (er geht zum Schwimmen), Abstrakta und Stoffbezeichnungen (zur Belohnung, im Urlaub) sowie Substantive mit nachgestelltem Genitiv (er kommt vom Geburtstag seiner Schwester) [alle Beispiele a.a.O.]. Extravagant ist die Klitisierung bei einem Sonderfall dessen, was je nach Autor/-in als "generische" oder "spezifische Verwendung" heißt: "Bei die Ausbildung zum Regisseur / zur Journalistin wäre bei Auflösung sogar nur der Indefinitartikel [= unbestimmte Artikel] möglich (zu einem / *dem Regisseur / zu einer / *der Journalistin)."

Die Untersuchung von Textkorpora lässt Rückschlüsse auf die Akzeptanz der Verschmelzungsformen zu. Die Vollformen hinter das und an das etwa dominieren deutlich gegenüber den Kurzformen hinters und ans. (NB: Zugrunde liegt geschriebene Sprache, v.a. Zeitungsartikel.) Nübling: "Auch das Sprachgefühl vermittelt den Sprechern, dass Formen wie fürs oder vorm zwar in gesprochener Sprache durchaus vorkommen, aber nicht den gleichen Status haben wie im oder zur." Meine Prognose: In 100 Jahren wird dieser Statusunterschied aufgehoben sein.

* In: Leuschner, Torsten / Mortelmans, Tanja / De Groodt, Sarah (Hgg.) (2005): Grammatikalisierung im Deutschen. Berlin / New York: de Gruyter. Der Beitrag ist als kostenloser Volltext über den Katalog der Universitätsbibliothek Frankfurt zu bekommen.

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