Samstag, 10. Juni 2023

Zwischen Reben und Todesangst

Schon mehrmals habe ich das Fehlen von anständigen Klettersteigen in Hessen beklagt. Man muss sich schon in ein anderes Bundesland begeben, will man einen Klettersteig erleben, der diesen Namen auch verdient. Jahrelang hatte ich mit einem Ausflug zum Calmont-Klettersteig geliebäugelt, am Dienstag nun war es so weit. Da das rheinland-pfälzische Ausgangsörtchen Ediger-Eller dreieinhalb Bahnstunden entfernt ist, musste ich zeitig aufstehen und bereits gegen 7 Uhr 30 in Frankfurt aufbrechen. Das 49-Euro-Ticket schränkt hier insofern ein, als es, wie bekannt sein dürfte, nur die kostenlose Nutzung des Regionalverkehrs erlaubt. Dafür hatte ich allein an diesem Tag Anfang Juni die monatlichen Kosten für das Deutschlandticket wieder drin (die Fahrt Frankfurt–Ediger-Eller schlägt mit über 30 Euro zu Buche); einen Teilabschnitt mit dem Schnellzug zurückzulegen hätte kaum zeitlichen Gewinn gebracht. Nach dem Abfahren meiner Lieblingsbahnstrecke Wiesbaden–Koblenz ging es an der dem Mittelrhein an Schönheit kaum nachstehenden Mosel entlang. Direkt hinter Cochem kam, nach Durchdringen des Kaiser-Wilhelm-Tunnels (von 1878 bis 1987 Deutschlands längster Eisenbahntunnel), auch schon der Zielhalt. Der ehemalige Wanderbahnhof ist aufgegeben und eingezäunt worden, was die Vorfreude jedoch nicht trübt.


Keine 300 Meter weiter befindet sich der Einstieg zum "steilsten Weinberg Europas", vor dem eine Tafel mit dessen "stellenweise alpinem Charakter" lockt, gleichzeitig aber warnt:
"- Begehen auf eigene Gefahr
- Nur für geübte Wanderer
- Schwindelfreiheit erforderlich
- Trittsicherheit erforderlich".


Info-Faltblätter auf Deutsch und Niederländisch können einem Klappkästchen darunter entnommen werden. Ein Willkommens-Anschlag weist auf den hier angebauten Riesling sowie auf seltene Vertreter der lokalen Fauna und Flora hin. Tatsächlich wuselten mir gleich zu Beginn zwei Mauereidechsen vor die Füße. Übrigens erfuhr ich später aus einem Aushang im Ort Bremm, dass nahezu wöchentlich Hubschrauberspritzungen stattfinden: "An diesen Tagen ist der Klettersteig zeitweise gesperrt". Durch pures Glück hatte ich ein günstiges Datum gewählt!



Der Klettersteig ist ein großer Spaß, der selbst an diesem Wochentag jede Menge Wanderlustige, darunter Amerikaner sowie Familien mit Kindern, anzog. Zur Verstopfung der Pfade kam es gottlob nie, am Wochenende mag das anders aussehen. Wer ein bisschen Erfahrung in den raueren unserer Mittelgebirge gesammelt hat, wird mit dem Calmont keine Schwierigkeiten haben, und auch sonst sind die zahlreichen Klammern, Leitern und Bügel durchweg vertrauenerweckend. An einigen vertrackteren Stellen gibt es sogar "Hilfs"-Routen ohne Kraxelnotwendigkeit. Zur Not kann man freilich ein Kletterset mitnehmen, mir ist aber niemand begegnet, der eins benutzt hat.







So oder so empfehle ich passendes Schuhwerk, denn der Sand auf den Wegen, die außerdem teils recht schmal sind, kann rutschig sein; ich jedenfalls war dankbar für die Sohlen meiner Lowa-Wanderstiefel.



Immer wieder wird man mit sensationellen Ausblicken belohnt, etwa auf die Klosterruine der Abtei Stuben oder auf die Moselschleife. Bänkchen und andere Sitzmöglichkeiten finden sich zwischen dem schroffen Schiefer zur Genüge. Etliche Tafeln am Wegesrand enthalten Wissenswertes u.a. zum Weinbau oder auch "Kultursplitter", aus denen man erfährt, welche Künstler/innen schon hier waren: Clara Viebig, William Turner, Goethe selbstredend, und alle haben ihre Eindrücke in ihre Werke einfließen lassen.





Das bereits erwähnte Bremm ist nach dem Abstieg der Mittel-, Ziel- oder Wendepunkt. Von hier aus, ggf. nachdem man sich in einer der verträumten Fachwerkgassen einen Schoppen gegönnt hat, hat man die Wahl, wie man den Rundweg beschließt. Man kann über den Calmont-Höhenweg nach Ediger-Eller zurückwandern, was vermutlich die pittoreskeste Option ist (ein römisches Heiligtum und einen "Vierseenblick" einschließend), oder man setzt etwas später nach Neef über und spaziert am anderen Flussufer entlang, oder man verlässt Bremm auf Talhöhe und folgt dem Fahrradweg parallel der Straße, auch ein Abstecher zum Aussichtspunkt "Todesangst" ist möglich. Oder oder oder.



Ich entschied mich, nach einem gemütlichen Waldstück wieder in den Klettersteig einzusteigen und diesen retour zu gehen, weil ich es spannend fand, ihn von beiden Seiten zu bewältigen, zudem hätten mich die Alternativen zu viel Zeit gekostet. Am Ende war ich lediglich drei Stunden netto in Bewegung, trotzdem erst kurz vor halb sieben abends wieder in Frankfurt.

Fazit
Die Calmont-Region im "WeinKulturLand Mosel" ist mindestens eine Tagesreise wert!

Bonus-Fakten für Hardcore-Fans

Proviant: 1 Brötchen mit Cappuccino-Schokocrème von Grashoff; 1 Scheibe Lieken-Urkorn "Fit & Vital Vitaminbrot" mit Ziegenfrischkäse mit Honig, 1 Scheibe mit Hummus von K-Classic; 1 Apfel; 1 Ei; "Fruity Peaches"-Pfirsich-Fruchtgummis von Veganz; 1 Veggie-Bifi (enttäuschend); marokkanischer Pfefferminztee in der Thermo-Trinkflasche; 0,5 l Mineralwasser medium (davon hätte ich besser noch eine zweite Flasche gekauft; ich rate zu 2 Litern Flüssigkeit für die Tour)
Gehörte Podcasts: "Conan O'Brien Needs a Friend": JB Smoove (live); "The Omnibus" #70: "Skyscraper Helipads"; "Kalk & Welk. Die fabelhaften Boomer Boys": "Mit Liebe an die große Leinwand geschissen"; "Overthinking It" Episode 770: "The Electric Daisy Carnival"
Zuglektüre: Dorothy Sayers - "Lord Peters Hochzeitsfahrt"; Eugen Egner - "Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie!"

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