Dienstag, 18. Juli 2023

Alle unter einem Dach

Zum ersten Mal begegnete ich dem Konzept Simultankirche in Heidelberg. Die heute evangelische Heiliggeistkirche wurde bis 1936 von Katholiken und Protestanten paritätisch genutzt (man spricht auch von einer "paritätischen Kirche"), die beiden Bereiche wurden von einer Scheidemauer voneinander getrennt. Mehr Kirchen in Deutschland, als man denkt, dienten lange Zeit der Ausübung beider christlicher Glaubensrichtungen, und eine stattliche Zahl von Simultankirchen existiert nach wie vor. Die ersten Gotteshäuser, die zu Simultankirchen wurden, taten dies im Zuge der Reformation, viele kamen am Ende des zerstörungsreichen Dreißigjährigen Krieges und danach hinzu. Nicht als Simultankirchen gelten dabei solche Gotteshäuser, die einen einzigen Besitzer haben, aber von einer anderen Konfession mitgenutzt werden. Ein Beispiel ist die Mennonitenkirche in Worms-Ibersheim, welche der angestammten Mennonitengemeinde gehört und zugleich von der evangelisch-unierten Kirche Hessen-Nassau genutzt wird.

Rheinland-Pfalz ist ein gutes Stichwort: In keinem Bundesland gibt es mehr Simultankirchen, 29 der insgesamt 64 stehen hier. In Sachsen gibt es gerade mal eine, dafür aber auch die älteste und größte, den St.-Petri-Dom zu Bautzen. Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Hamburg, Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein haben gar keine, wobei die thüringische Kirche St. Bonifatius in Bechstedtstraß (Landgemeinde Grammetal), soweit ich das sehe, diejenige Simultankirche im gesamtdeutschen Gebiet war, deren paritätischer Betrieb als letztes eingestellt wurde, nämlich 1972. Es war zugleich die Kirche mit dem spätesten Beginn einer Simultannutzung: 1946. Die einzige Simultankirche im Saarland, die Stephanuskirche in Böckweiler, ist ein Beispiel für leichtes Ungleichgewicht: Das Bistum Speyer darf für seine katholischen Schäfchen gerade mal acht Sonntagsgottesdienste pro Jahr abhalten, der Rest steht der Evangelischen Kirche der Pfalz zu. Die Abteikirche Otterberg in Rheinland-Pfalz wiederum kann von sich behaupten, zeitweise von nicht weniger als vier Gemeinden beansprucht worden zu sein: der französisch-reformierten, der deutsch-reformierten, der lutherischen sowie der römisch-katholischen.

Eine Extremform der gleichzeitigen Nutzung war das Simultaneum mixtum, das zwischen 1650 und 1850 ausschließlich in Goldenstedt im Landkreis Vechta existierte: Die Kirche St. Gorgonius wurde nicht nur sowohl von Protestanten als auch Katholiken genutzt, auch die Gottesdienste für beide Ausrichtungen wurden simultan gefeiert! Die skurrilen Regularien für das Haus unter dem Simultaneum mixtum sind detailliert in Band 2 von Carl Ludwig Niemanns Das oldenburgische Münsterland in seiner geschichtlichen Entwickelung von 1891 nachzulesen. Auszug:

Unter dem Hochamte durften die Katholiken keine katholische Lieder aufführen, sondern der luth. Küster sang unter demselben blos mit seiner Gemeinde unter Begleitung der vom kath. Lehrer gespielten Orgel luth. Lieder. Diese Lieder waren ein für allemal festgesetzt und "simultanen Charakters". Nur was dem Priester beim Hochamte zu antworten war (Et cum spiritu tuo etc.), sangen die Katholiken. Bei der Postcommunio wählte der Küster ein beliebiges, meist specifisch lutherisches Lied. Hatte der Pastor den Kelch zugedeckt, so mußte der Gesang aufhören, wenn auch die Gemeinde mitten im Verse war. Des Friedens wegen ließen die Pastöre den Gesang meist erst endigen. Die Wahl der Lieder vor und nach der Predigt war dem Belieben des Küsters anheimgestellt. Hatten mal konfessionelle Streitigkeiten in der Gemeinde stattgefunden, dann wurden mit Behagen Kampfeslieder gesungen.

Mich erinnert das an großelterliche Erzählungen von überfüllten Klassenzimmern, wo ein Lehrer oder eine Lehrerin mehrere Jahrgangsstufen gleichzeitig zu unterrichten hatte und sich vor den nach Klasse und Fach getrennt sitzenden Schülern hin und her bewegen musste, dabei permanent den Stoff wechselnd. Bleibt noch festzuhalten, dass seit 2021 jedes Jahr die "Simultankirche des Jahres" gekürt wird; heuer ist es St. Margareta in Frankenhof (Bayern). Außerdem gibt es unter dem Motto "Erleben. Erfahren. Entdecken." einen Simultankirchenradweg mit 51 Stationen: "Auf circa 400 Kilometern verläuft der Radweg durch herrliche Landschaften in den Landkreisen Amberg-Sulzbach, Neustadt an der Waldnaab, Tirschenreuth und der Stadt Weiden."

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