Mittwoch, 9. Januar 2013

Die Bahnen in unseren Köpfen

Vor einiger Zeit habe ich ein Buch gelesen, das mein Denken derart nachhaltig beeinflusst hat, dass ich es glatt in eine Reihe mit "Gödel, Escher, Bach", "Der Heros in 1000 Gestalten" oder "Arm und Reich" stellen möchte. Es handelt sich um Die blinde Frau, die sehen kann des Neuropsychologen V.S. Ramachandran. Der deutsche Titel klingt zwar nach einer launigen Fallsammlung à la Oliver Sacks, doch ist das Werk eine grundlegende Auseinandersetzung mit den vielen Facetten des menschlichen Gehirns und hangelt sich lediglich zu Zwecken der Veranschaulichung an herausragenden Patientengeschichten des Doktors entlang (das Original heißt Phantoms in the Brain: Probing the Mysteries of the Human Mind). 

Man lernt bei der Lektüre, dass praktisch jedes abweichende Verhalten neurologisch zu erklären ist. Setzt man voraus, dass jede menschliche Aktion eine Reaktion auf etwas ist, so muss man jede Anomalie als logische Reaktion auf eine Störung in der Wahrnehmung deuten. Ramachandran berichtet zum Beispiel von einem jungen Mann, der steif und fest behauptete, seine Eltern wären nicht seine Eltern, sondern mit zwei ihnen ähnlich sehenden Schauspielern ausgetauscht worden. Diese Wahnvorstellung ist nun nicht bloß eine unheilbare "seelische Macke", sondern ist konkret auf eine defekte Nervenverbindung zur Amygdala zurückzuführen (oder so ähnlich; ganz genau hab' ich mir's nicht merken können). Normale Menschen spüren beim Anblick ihrer Eltern etwas schwer in Worte zu kleidendes "Besonderes", irgendetwas wird da emotional getriggert. Das war und ist evolutionär sinnvoll: Kinder wissen, dass sie ihren Eltern trauen können (und müssen), bevor sich überhaupt eine Art Gesichtsunterscheidungsfähigkeit herausgebildet hat – es fühlt sich einfach "richtig" an. Bei dem besagten Patienten war diese emotionale Brücke kaputt. Für sein Gehirn war nun die einzig mögliche Interpretation: Seine Eltern mussten Doppelgänger sein, denn das vormals bekannte Gefühl, das sich beim Kontakt mit den Eltern einstellte, fehlte jetzt. Interessanterweise galt das nur für visuellen Kontakt; am Telefon glaubte der Mann sofort, mit seinem Vater oder seiner Mutter zu kommunizieren.

Das menschliche Sehen ist nämlich kein einfacher Vorgang (no shit). Es gibt nicht nur einen Sehnerv, der vom Augapfel zum Hirnkasten führt. Tatsächlich sind es mehrere visuelle Verarbeitungsbahnen, die dafür sorgen, dass wir erkennen, was sich vor uns befindet. Dass die Größe, die Farbe, die relative Position im Raum eines Objekts separat übermittelt wird, kann man sich ja noch vorstellen. Von "Wo-" und "Was-Bahnen" ist dabei die Rede. Es gibt aber auch eine "Wie-Bahn", die klärt, wie wir mit dem gesehenen Objekt interagieren. Die "blinde Frau, die sehen kann" aus dem Titel des Buches hatte eine noch funktionale "Wie-Bahn", während die übrigen Bahnen gestört waren. Das hatte zur Folge, dass die Patientin nach Aufforderung des Arztes einen Gegenstand korrekt greifen konnte, von dem sie schwor, ihn nicht sehen zu können. Wenn die "Was-Bahn" defekt und die "Wie-Bahn" intakt ist, kann das Klüver-Bucy-Syndrom auftreten: Die Betroffenen zeigen unkontrollierbares, übersteigertes Sexualverhalten oder versuchen, sich nichtessbare Dinge in den Mund zu stopfen. Sie sind also in der Lage zu handeln, wissen aber nicht, womit sie das tun, wobei sie nicht wissen, dass sie es nicht wissen. (Rhesusaffen, bei denen man mittels Hirnlappenschnibbelei eine solche "psychische Blindheit" ausgelöst hatte, besprangen plötzlich Vertreter anderer Spezies.)

Ein Hauptinteressengebiet Ramachandrans ist der Phantomschmerz. In einem der ersten Kapitel stellt der Autor ein Verfahren vor, mit dem man unter Zuhilfenahme einer "Spiegelbox" jemanden, der eine Hand oder einen Arm verloren hat, "überlisten" und schließlich vollständig von seinen Phantomschmerzen befreien kann (Diese Methode wird übrigens – wenn auch als ein bisschen zu simpel und erfolgversprechend – in der TV-Serie Dr. House, Ep. 6x03, gezeigt.)
  
Es mag sein, dass diese Physiologieverehrung in ein paar Jahrzehnten ähnlich belächelt wird wie heute Freud. Mich jedenfalls haben die Argumente und Beweisketten im Wesentlichen überzeugt. Aber was mühe ich mich überhaupt ab und gebe den Inhalt des Buches ungeschickt wieder? Lest es halt selbst. Rasch!

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