Montag, 27. November 2017

Neues aus der Offenbacher Anthologie

Die folgenden Gedichte nebst Interpretationen sind die Parodie einer Parodie. Ich schrieb sie irgendwann zwischen 2010 und 2011 als Weiterspinnung von Thomas Gsellas unnormal komischer "Offenbacher Anthologie", welche freilich an die "Frankfurter Anthologie" der FAZ angelehnt war und die als preiswert zu bekommende Sammelausgabe (Ullstein-Taschenbuch "Warte nur, balde dichtest du auch", 2010) sich zuzulegen ich dringend empfehle. 


PEER FETTPO
ALLE KINDER (AUSZUG)

Alle Kinder amüsieren sich beim Faschingsfest, außer Betty, die stanzt Konfetti.
Alle Kinder tragen Seitenscheitel, außer Ronny, der hat 'nen Pony.
Alle Kinder atmen tief ein, außer Lars, der hat SARS.
Alle Kinder betreiben Wintersport, außer Bob, der ist der Bob.
Alle Kinder efreuen sich am Sex, außer Elfriede, die ist frigide.
Alle Kinder sind stark behaart, außer Max, der benutzt Wachs.
Alle Kinder haben normale Namen, außer Tankred-Olk.
Alle Kinder bleiben unvereidigt, außer Sören, der muß schwören.
Alle Kinder sind da, außer Jack, der ist weg.
Alle Kinder fahren mit der Kutsche, außer Nadine, die muß zieh'n.

Es bedarf nicht immer eines Maikäfernestes im Lehrerbett oder einer Morddrohung auf der Facebook-Pinnwand um zu erkennen, daß Kinder grausam sind. Auf schmerzliche Weise erfahren mußte dies der neunjährige Peer Fettpo, der wegen seines Namens über Monate hinweg von seinen MitschülerInnen der Benjamin-Blümchen-Grundschule in Gifhorn gehänselt wurde. "Alle Kinder laufen Schlittschuh / außer Peer, der ist zu schwer", hörte er Tag für Tag aus den Mündern der Unmündigen. Als der bösartige Spruch eines Morgens in großen gelben Kreidelettern auf der Schiefertafel prangte, riß Peer der Geduldsfaden. Da sein Vater den heimischen Waffenschrank jedoch gut abgeschlossen hatte, griff der Junge zur Macht des Wortes und schlug mit dem Füllfederhalter zurück. Über jeden einzelnen Schüler, jede einzelne Schülerin verfaßte er einen den jeweiligen Namen aufs Korn nehmenden Reim. Selbst exotische Vornamen verstand er aufs vorzüglichste einzuarbeiten (Beispiel: "Alle Kinder machen eine Autopsie / außer Trish, die liegt auf'm Tisch."). Innerhalb einer Nacht entstand so eine Sammlung von Zweizeilern – streng in der Form, gewitzt und zielsicher im Inhalt –, die demnächst als dreiseitiges Heftchen bei Luchterhand aufgelegt wird, Titel: "Alle Kinder der Klasse 3b sind doff! [sic]" Eine Frage stellt sich allerdings: Warum bleibt eine einzelne Schülerin in dem Peer'schen Gedichtsammelsurium unerwähnt? Handelt es sich um seine heimliche Angebetete? Oder ist "Silvia" einfach nur beschissen schwer auf irgendwas zu reimen?
CARMEN THOMAS

WILFRIED MAIER
STADTSZENE

Am Springbrunnen sitzt eine Gurke Teenies, trinkt Brief, Bier
Omas und Opas und Omas kaufen am und ein zu
Auf der Fußgängerzange steht ein Bettler und streicht Leierkasten
Hochbetrieb auch am Kirflu, bangert ransch!
Motorradfahrer mit Schiffschrauben Hemdknopf Schneewittchen
Wer will nicht mit ins Pfandhaus, am Neumond acht mal klopfen, Lar?

Als die Brüder Alfred und Wilfred im Juli 1998 ihren gemeinsamen Abenteuerurlaub in Vanuatu antreten, ahnen sie noch nicht, daß sich damit ihrer beide Leben grundsätzlich verändern werden. Fasziniert von den rituellen Spielen der indigenen Bevölkerung können sie einen Stammesoberen dazu überreden, sie bei dem sogenannten Naghol mitmachen zu lassen, einer extremen Vorform des Bungeespringens, bei welcher der Springer – mit den Füßen an eine Liane gebunden – mit dem Kopf auf der Erde aufschlagen muß. Alfred springt zuerst, rollt sich elegant ab, erntet Applaus von den Zuschauern. Auch Wilfred wird für seinen Jump gelobt, als er nach kurzer Benommenheit wieder aufsteht. Was niemand sehen kann, ist, daß der 40jährige ein massives Hirntrauma erlitten hat, das sich allerdings "nur" in einer sogenannten Wernicke-Aphasie manifestiert. Bei dieser Sprachstörung vertauscht der Patient beim Sprechen Laute, Silben oder Lexeme und erfindet zum Teil neue Wörter, ohne davon selbst etwas zu merken. Seinem Bruder fällt Wilfreds Leiden erst am Abend auf, als dieser an der Cocktailbar einen "Margarina mit Zitronenglas und Tapeten zum Lachen" bestellt. Doch Alfred wäre nicht der lebenslustige Schmunzelfex, als den man ihn kennt, wenn er aus der Situation nicht das Beste zu machen verstanden hätte. Noch im selben Jahr beginnt er, sämtliche Wortschwälle des Bruders mitzuschneiden und zu transkribieren. Es entsteht eine faszinierende Sammlung ungebändigten Gedankenflusses, in wirrer Sprache, doch oft mit erstaunlich tiefem, ja unheimlichem Sinn. "Der Trapp leckt" ist bei Chapman & Hall erschienen, faßt 1059 Seiten und kostet 39,99 €.
CLAUS KLEBER

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