Mittwoch, 27. Juli 2022

[Neue Rubrik] TITANIC vor zehn Jahren: 8/2012

Auf dem DVD-Beileger der immer noch von mir abonnierten GameStar befindet sich jedes Mal ein Rückblicks-Video, in dem vier Redaktionsmitglieder ausgesuchte Spiele Revue passieren lassen, welche in der Ausgabe, die jeweils zehn Jahre zuvor erschienen ist, besprochen wurden. Diese kurzweiligen trips down memory lane gibt es bereits seit vielen Jahren, aber auf die alberne Idee, ein Rückblicks-Video über ein Rückblicks-Video von vor zehn Jahren zu produzieren, ist man leider noch nicht gekommen. Jedenfalls freue ich mich Monat für Monat auf dieses Video, denn nicht nur wegen ihrer Inhalte, sondern auch wegen ihres sympathischen Personals ist mir die GameStar seit meiner Jugend eine geschätzte Begleiterin. Tatsächlich war GameStar-Redakteur mein Traumberuf #2. Noch mehr ans Herz gewachsen waren mir als Anfang-20-Jährigen nur die Inhalte und das Personal der Titanic, weswegen eine Mitarbeit ebendort mein Job-Traum Nummer 1 war, tja, und der ging schließlich in Erfüllung. Von 2011 bis 2022 war ich Redakteur beim "endgültigen Satiremagazin", was bedeutet, dass ich an Heften, die vor zehn Jahren (!) erschienen sind, maßgeblich mitgewirkt habe. Diese Erkenntnis brachte mich neulich gehörig zum Taumeln, aber auch auf den Gedanken: Was hat sich in dieser irrsinnigen Zeitspanne wohl alles verändert? Und: Wie war das eigentlich damals? Endlich: Könnte man daraus nicht eine Rubrik machen? Es soll ja durchaus eine Schnittmenge zwischen Kybersetzung- und Titanic-Leser(inn)en geben.

Also: Heute vor genau zehn Jahren erschien Heft 394, und ausgerechnet mit dieser Ausgabe einzusteigen, lohnt sich, erscheint sie mir doch in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll. Das Cover könnte auf Außenstehende zunächst rätselhaft und unverständlich wirken:


Es ist dies ein seltener sog. Meta-Titel. Den vergleichbaren Fall eines Covers, das auf einen vorausgegangenen Titanic-Skandal Bezug nimmt, gab es meiner Erinnerung nach nur einmal davor, nämlich mit "Nein, diese Engholms" direkt nach der Klage Björn Engholms anlässlich des berühmten "Sehr witzig ..."-Titels (4/1993).
Wer damals nicht unter einem Stein gelebt hat, wusste natürlich (und weiß es heute immer noch), dass hier einfach "nachgelegt" wurde, nämlich gegen Papst Benedikt XVI., der sich von dem Juli-Titel ("Die undichte Stelle ist gefunden") beleidigt und zu einem juristischen Kreuzzug wider die komische Kunst beflügelt fühlte. Die ganze Ratzinger-Saga (bis dahin!) hat Tim Wolff auf vier Seiten zusammengefasst. So manches Detail dieser Farce hatte ich tatsächlich vergessen, z.B. dass sich sogar Bild-Kolumnist Wagner zu einer Replik hat hinreißen lassen.


Aufmacher war jedoch der fünfseitige Fotoroman "Der große Dirktator" von Fischer/Gaitzsch/Ziegelwagner. Dirk Niebel! Wer erinnert sich noch an den FDP-Entwicklungshilfeminister und seine "Teppich-Affäre"? Wow, das war damals das Topthema. Hach, es waren einfachere Zeiten ... Nein, stimmt so nicht, komplex und wild ging es auch 2012 her, aber die Aufreger waren einerseits banaler, andererseits unterhaltsamer. Dahingehende Betrachtungen wären mal einen eigenen Blogeintrag wert.


Die August-Nummer beinhaltet außerdem einen frühen Auftritt des "So einfach ist das!"-Manns; zwar nicht den ersten, aber den zweiten. (Ich habe extra bei seinem Schöpfer Leo Riegel nachgefragt.) Im Nachhinein bemerkenswertes Detail: Der S.e.i.d.!-Mann trägt die medizinische Schutzmaske über der Nase!


Ein weiteres Schmankerl ist in den "Briefen an die Leser" versteckt: eine Fake-Anzeige für das Debutalbum der fiktiven Band Westzoo. Dieses Projekt war ein vor allem auf Facebook durchgezogener Running Gag von Imke "Flauschee" Lim und Mirco "Pogo" Stöver, zwei verdienten Kämpen der PARTEI Hamburg. Kein einziges Lied hat Westzoo je produziert, keinen Auftritt absolviert, aber die Ankündigungs-Maschinerie wurde über Jahre hinweg am Laufen gehalten, und diese (hoffentlich bezahlte!) Werbung stellte die Kulmination des Verwirrspiels dar – und bis heute den letzten Eintrag des begleitenden Band-Blogs.


Das Sommerloch 2012 wartete (wie aus heiterem Himmel; ha!) mit dem Thema Blitze auf. Die Boulevardpresse schlug Alarm, weil in kurzer Zeit mehrere Menschen in Deutschland vom Blitz getroffen worden waren. Das nahmen Michael Ziegelwagner und ich zum Anlass, eine Seite mit der Überschrift "Der Tod kommt von oben" zu schreiben, die bei uns beiden rasch Kultstatus erlangte und aus der wir einander heute noch zitieren. Sie ist wirklich sehr lustig, wenn ich das so bescheiden konstatieren darf.


Einen Meilenstein markiert die vorliegende Ausgabe auch insofern, als darin "Die guten Seiten" ihren Einstand geben. Das bedarf womöglich einiger Erklärung. 


Nach gut fünfzehn Jahren war die Redaktion der Meinung, dass "Partner Titanic" seine besten Tage hinter sich hatte. Von mir aus hätte es noch weiter laufen können, denn ich war großer Fan der Reihe, und "Quatsch" von Schiffner/Sonneborn zähle ich zu den drei komischsten Büchern in meinem Bücherregal; nichtsdestotrotz war es mir eine Ehre, mit der Entwicklung eines Nachfolgers beauftragt zu werden. Und so erfand und betreute ich 55 Folgen lang (auf Einhaltung dieser Anzahl bestand ich von Anfang an), unter gewichtiger Mitarbeit von Sebastian Klug, die Nonsens-Seiten "55ff". Konzeptionell verstand sich "55ff" als Parodie der Beilagen-Magazine von Süddeutscher Zeitung respektive Zeit ("ein Modeheft", "ein Uhrenheft" etc.), doch aus diesem engen Korsett befreite es sich schon mit seiner Premiere. Wichtig war mir, dem freien Unsinn zu frönen, Aktuelles möglichst außen vor zu lassen und das Ganze ein My literarischer als "PT" zu halten, zudem weniger kleinteilig; Thomas Hintner, der die Gestaltung übernahm, setzte sich stets für seine geliebten "Weißräume" ein.
Der Rubrik war – wie allem, was ich anpacke – kein Erfolg beschieden, ja sie hatte nicht nur intern den Ruf weg, die unbeliebteste im ganzen Heft zu sein. Vonseiten des einen oder anderen Connaisseurs wurde mir indes später doch Bedauern über das Ende zugetragen. Diese Erstausgabe ist aus noch einem Grund historisch: Hier findet sich die vermutlich erste Verwendung des Wortes "gendern" in Titanic. In einer Fußnote am Namen von Sebastian Klugs wiederkehrender Figur Peterine Reichelt steht: "Name von der Redaktion gegendert".

Weiteres Notierenswertes
- Auch längst verdrängt: die Beschneidungsdebatte! Dazu gibt es eine köstlich geschmacklose Doppelseite von Wolff & Ziegelwagner in fantastischer Bastelzeitungs-Optik.
- "In letzter Zeit ging es dauernd gegen den Euro: Er wurde abgewertet, geschmäht, verlacht und steht jetzt praktisch kurz vor Zusammenbruch und Zerfall". So beginnt eine Strecke, in der Mark-Stefan Tietze und Michael Ziegelwagner in einer seltenen Kollaboration andere Währungen abwerten. Gut, dass auch dieses Thema vor dem Vergessen bewahrt wurde.
- Als eher unbekannter Name im Inhaltsverzeichnis sticht Tom Sundermann hervor. Der war in jenem Sommer Praktikant bei uns, musste als solcher selbstverständlich auch das Aboanzeigen-Model geben, ist dann aber bedauerlicherweise ins seriöse Medien-Business abgerutscht. Er sollte später unter anderem zu dem erlauchten Kreis von Journalisten gehören, die in der Prozessbeobachter-Lotterie zur Hauptverhandlung gegen den NSU gezogen wurden.
- Frank Schulz (genau, der namhafte Romancier) gedenkt des bereits ein Jahr vorher verstorbenen Satirikers Axel Marquardt. Eine gleichermaßen lehrreiche wie einfühlsame Annäherung an die Kowalski-Legende. Frank Schulz hat späterhin übrigens noch mindestens zwei weitere Nachrufe an Ex-Kollegen geschrieben (in Form von "Briefen an die Leser") und hatte, darauf werden wir in Zukunft noch eingehen, eine kurzlebige Kolumne in Titanic.
- Wer hier auch schon eine Kolumne hat, ist Heinz Strunk. Ich hätte schwören können, "Das Strunk-Prinzip" wäre erst 2013 oder 14 eingeführt worden.
- Ferner war ich mir sicher, Tim Wolff hätte seine so drängende wie sträflich ignorierte Abrechnung mit der Vokabel "ausgerechnet" viel später verfasst. Die Auswüchse der "Ausgerechnet-Pest" waren also 2012 schon so arg. Ein Jahrzehnt danach schicke ich Tim immer noch regelmäßig Beispiele vergurkten "selbstverständlich"-Gebrauchs im hiesigen Presswesen.

Schlussgedanken
Was für ein großartiger Wurf! Man könnte versucht sein, die Nummer 8/12 als "das Heft nach dem Papst-Heft" abzutun, aber die aufgeführten Punkte dürften deutlich machen, dass es eo ipso Beachtung verdient und durchaus Geschichte geschrieben hat. Und es hat einen "Bergmann-Buben"-Comic!

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