Dienstag, 19. Juli 2022

Wer hat an der Nomenklatur gedreht?

In einem früheren Beitrag schrieb ich in Hinblick auf das linnésche Ordnungssystem: "Die bestehende Systematik ist die sinnvollste, die wir haben", und, als Fußnote: "Davon gehe ich einfach mal aus. Genaueres könnte ein Blick in das Buch 'Tiere ordnen: Eine illustrierte Geschichte der Zoologie' von David Bainbridge klären." Jene ersprießliche Lektüre konnte ich nun endlich meiner Lieblingsbibliothek entleihen.

Obwohl sich der Autor, der selbst unter anderem zur Sequenzierung von Rinder-DNA geforscht hat, damit zurückhält, die von Linné etablierten Standards anzuzweifeln oder gar deren Ausmusterung zu fordern, stellt er zwei jüngere Klassifizierungsansätze vor und erläutert deren mögliche Vorteile, welche mir vor allem darin zu bestehen scheinen, dass man von der Anatomie auf die Genetik als primäres Kriterium zur Einteilung und Abstammungsdarstellung von Lebewesen umschwenkt. Ich gebe die Beschreibungen der beiden Systeme in Zitatform wieder (nach S. 187ff.; 1. Auflage 2021), weil mir als Nichtbiologe beim Paraphrasieren bestimmt Fehler unterlaufen würden.

Da ist zum einen Kladistik "(vom griechischen Wort für 'Zweig')", die "nach einem logarithmenähnlichen System" funktioniert. "Mit Ausnahme der Arten wurden mit dem neuen Klassifikationssystem alle auf Linné zurückgehenden taxonomischen Stufen verworfen und durch eine einzige klassifikatorische Einheit ersetzt: die Klade. Eine Klade von Lebenwesen umfasst definitionsgemäß alle Arten, die von einem einzigen Vorfahren abstammen und einige gemeinsame, typische identifizierende Merkmale geerbt haben, die dieser Vorfahr entwickelte. [...] Ein Vorteil der Kladistik besteht darin, dass es nicht wichtig ist, welche Daten genutzt werden, und in jüngerer Zeit haben sich DNA-Sequenzen als ebenso nützlich erwiesen wie Knochenhöcker, um die Stammfolge von Arten zu bestimmen. [... D]as visuelle Ergebnis sind asketisch einfache Bäume aus sich gabelnden geraden Linien, wobei die lebenden Arten an der Spitze stehen und die unbekannten, vermuteten Urahnen an den Wurzeln. [...] Und jeder kladistische Baum stellt eine Hypothese dar, die eine Zeit lang zu den verfügbaren Daten passt, bis neue Daten auftauchen, die sie widerlegen und eine Revision erfordern."

"Die 'Phänetik' geht noch einen Schritt weiter als die Kladistik und will überhaupt keine evolutionären Verbindungen zwischen Tieren mehr herstellen. Sie quantifiziert lediglich die Ähnlichkeit verschiedener Arten, häufig mithilfe computergestützter mathematischer Verfahren."

Noch einmal: Ich denke nicht, dass Linnés Nomenklatur in absehbarer Zukunft aufgegeben wird. Allein die ganzen Schildchen in Zoos und Naturkundemuseen, die ersetzt werden müssten! Dennoch sollten alternative Konzepte im Schulunterricht wenigstens kurz angesprochen werden. Gerade unkonventionelle Visualisierungen könnten uns einen frischen Blick auf das große Ganze verschaffen. "Anstelle eines gut verwurzelten Baumes wird bei neueren Arten der Tierklassifikation nun oft ein Netzwerk aus Linien verwendet, deren Länge für die berechnete Unähnlichkeit zwischen den Tieren an den Enden der Linien steht. [...] Dieses scheinbar chaotische Anwachsen zwischenartlicher Beziehungen regt offensichtlich dazu an, in größeren Dimensionen zu denken. Viele Zoologen haben sich bereits an strahlenförmigen Strukturen versucht, die alles bekannte Leben auf der Erde verbinden. Die riesigen neuen Stammbäume basieren meist auf genetischen Informationen, da die DNA allen lebenden Organismen gemeinsam ist. Und in einigen dieser Bäume gibt es in einer Ecke ein Zweiglein mit drei winzigen Knospen [... :] wir stolzen Menschen [...] zusammen mit unseren nahen Verwandten – Hefe und Zuckermais."

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