Mittwoch, 30. August 2023

TITANIC vor zehn Jahren: 9/2013

Ich könnte mir vorstellen, dass etliche am Zeitgeschehen weniger Interessierte mit dieser Retusche eines ikonischen Pressefotos heute kaum noch etwas anfangen können:


Ihnen sei versichert: Der arme Gustl Mollath mit seiner traurigen Zimmerpflanze wanderte damals von Zeitung zu Zeitung, eine Verballhornung mit der Allzweck-Witzblaupause Merkel war mithin unvermeidbar. Die Idee zu diesem Cover hatte übrigens David Schuh eingesandt; der darf das!

Auch im Heftinnern ging es um die Kanzlerin. An eine Ablösung durch SPD-Konkurrent Steinbrück glaubte im Bundestagswahlkampfendspurt freilich niemand mehr. Die Motivation für einen Merkel-Aufmacher war denn auch nicht "Das könnte die letzte Chance für einen Fotoroman mit Merkel sein!", sondern: "Jetzt erst recht!" Um die Koalitionsträume der Regierungschefin ging es folgerichtig in der vier Seiten fassenden Fotostory von Fischer/Ziegelwagner mit dem Titel "Dreams of a Coalition". Wie wir wissen, kam es dann ja zur Großen Koalition mit der SPD, in Merkels Hirn wurden allerdings auch Partnerschaften mit beispielsweise der Linken durchgespielt.


Interessanterweise taucht in diesem Artikel zum ersten Mal in der Heftgeschichte (soweit ich sehe) der Name der Partei AfD auf.

Zeit für Selbstkritik! Der Beitrag "A Day in the Fleisch", in dem es darum geht, wo im Alltag uns überall tierische Produkte begegnen (Anlass war die Anregung der Grünen, wenigstens einen fleischfreien Tag pro Woche, z.B. in Werkskantinen, durchzusetzen), ist einer meiner schlechtesten und symptomatisch für die leider in Zukunft immer wieder sichtbar werdenden Ermüdungserscheinungen meinerseits. Einseiter wie diesen, mit pflichtgemäßem Abspulen vorhersehbarer Pointen, mit Wortspielen, Tierwitzen, erzwungenen non sequiturs und anderen Gaitzsch-Trademarks, habe ich im Laufe meiner Titanic-Zeit allzu oft abgeliefert. Hervorhebenswert ist immerhin, dass ich diesen Artikel eigenhändig illustriert habe.


Direkt rechts neben diesem Tiefpunkt (S. 23) beginnt ein weiterer Tiefpunkt, der sogar mit "Tiefpunktbeilage" überschrieben ist: das fünf(!)seitige Spezial "Schöner scheißen". Die Idee dafür hatte seit Monaten herumgelegen, immer wieder kam sie bei Inhaltskonferenzen auf, jedes Mal legte ich mein Veto gegen ihre Realisierung ein. Vergeblich. Irgendetwas zu diesem Sammelartikel habe ich am Ende sogar selbst beigetragen; ich habe vergessen, was, und möchte es auch nicht nachschlagen.


Nicht schämen muss ich mich hingegen für die Strecke "Noch mehr Terror gegen die Bundeswehr" (S. 47-49), die ich mit Leo Fischer verfasst habe und die eine oft und mit viel Anklang bei Lesungen vorgetragene Nummer werden sollte (wobei wir später einzelne Parts wegen "zu hart" wegließen). "Attacken auf die Bundeswehr sind mittlerweile trauriger Alltag [...]. Ende Juli zündeten Chaos-Linke in Sachsen-Anhalt 16 Bundeswehrlaster an! Hunderte Bierfässer platzten, die Durstlöscharbeiten dauern bis heute an. Und wer zahlt es am Ende? Mal wieder die überführten und verurteilten Links-Chaoten (sog. Schadensersatz)!"


Hübscher Gag im "Fachmann":


Diese Ausgabe von "Vom Fachmann für Kenner" enthält auch einen meiner Lieblings-Cartoons von Piero Masztalerz, wie das Heft auch absolute Klassiker von H. Richert ("Was heutzutage alles als Rocken durchgeht") und dem nun immer regelmäßiger gefeatureten L. Riegel beinhaltet:

(obere Hälfte abgeschnitten; wer den Cartoon noch nicht kennt, soll sich bitte einen von Leos Sammelbänden kaufen oder halt gleich die hier besprochene Ausgabe bestellen)

Als viertelseitigen Wegwerf-Gag in den "Briefen" findet sich auf S. 11 eine Parodie auf Focus-, Stern- und Co.-Reihen à la "Die miesen Tricks der Zahnärzte/Vermögensberater/Reisebüros". Später, ich glaube, erst Jahre später, wurde dieser Ansatz dann tatsächlich in einem vollständigen Artikel durchgespielt. Den wiederzulesen kann ich kaum erwarten.

Weiteres Notierenswertes
- Auf S. 40f. sehen wir die meiner Erinnerung nach letzte Folge von "Der unglaubliche Ulk". Danach hat man nie wieder etwas von Pierre Steinbach gehört.
- Für die Geschichtsbücher: "Bastian Langbehn ist der erste frei gewählte Abgeordnete der PARTEI" und wurde in jenem Monat von Leo Fischer besucht und porträtiert (S.36ff.). Ich glaube, ich bin dem guten Bastian nur ein einziges Mal begegnet, gewann dabei aber einen angenehmen Eindruck von dem Burschen.
- S. 66, "Der letzte Mensch" mit Franz Münteferings "mobilem Kritik-Service" (Münte hatte sich kurz zuvor die eigene Partei zur Brust genommen), u.a. zum israelischen Siedlungsbau: "Häuserbauen geht gar nicht. Hab selber eins gebaut, nur Scherereien. Handwerkerzoff, Fenster vergessen, Pferde im Flur. Das müssen sich auch die Palästinenser nicht gefallen lassen. Wenn mir jüdische Handwerker eine Synagoge mitten ins Badezimmer kacheln, würde ich auch zur Uno gehen. Aber erst mal Raketen drauf!" Oder über "Mutter Müntefering": "Meine Mutter ist zwar schon tot, trotzdem lege ich noch immer jede Woche einen Sack mit Schmutzwäsche auf ihr Grab. Leider fehlt in letzter Zeit die Bereitschaft zur Solidarität mit mir, die Bereitschaft zur Zukunftsfähigkeit für diesen Waschservice."
Schade, dass diese Rubrik in absehbarer Zeit ausläuft!  
- Soeben (August 2023) ist die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen zu Ende gegangen. Und just vor zehn Jahren hieß es in den "Briefen an die Leser":

Das EM-Endspiel, deutsche Fußball-Frauen,
hat es wieder einmal gezeigt: Nicht nur könnt Ihr, im Gegensatz zu den Herren, die entscheidenden Spiele auch gewinnen. Die während der Live-Übertragung des Finales eingeblendete Programmänderung »›Mein Kind will sterben‹ entfällt« hat außerdem bewiesen, daß Ihr auch die Doppelbelastung als Mütter und Knipser ohne Probleme bewältigt.
Chapeau!
Titanic

Schlussgedanke
Eine mediokre bis unterwältigende Ausgabe. Dafür wird das Oktoberheft sensationell gut. Ich freue mich schon drauf, es mir bald wieder zur Hand zu nehmen!

1 Kommentar:

  1. Die Empfehlung des Ressortchefs hat es dann auch ins Netz geschafft (auch wenn die Seite damals noch anders aussah): https://www.titanic-magazin.de/fachmann/2013/september/

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