Mittwoch, 28. Februar 2024

TITANIC vor zehn Jahren: 3/2014


Dieser Titel "funktioniert" vermutlich auch ohne Hintergrundwissen, doch zum besseren Verständnis sei darauf hingewiesen, dass es sich um eine Verbindung zweier Affären handelt, die damals die Nation bewegten; ein klassischer "Themenkreuzungstitel", zu dem es als Making-of ein fabelhaftes Stop-motion-Video gibt, an dem Thomas Hintner eine geschlagene Woche von früh bis abends gesessen hat.

Parallel zu den causae "Gelber Engel" und SPD (s. Startcartoon, S. 3) kochte auch noch ein Fiskusskandal um Alice Schwarzer hoch. Das von Moritz Hürtgen und Michael Ziegelwagner geschriebene Aufmacher-Märchen "Alice im Steuerland" enthält ein paar der formidabelsten Illustrationen Stephan Rürups aller Zeiten.


Leider aktuell wie nie ist die Strecke "Endlich wieder deutsche Kriege!": "Den Rest der Welt verlangt es nach unserer 'tätigen Außenpolitik' (Außenminister Frank-Walter Steinmeier), denn wir sind 'zu groß, um die Weltpolitik nur zu kommentieren'. Wir 'können nicht zur Seite schauen' (Kriegsministerin Ursula von der Leyen)". Aktualisierte Propaganda zu herbeigesehnten Missionen in Afrika und Vorderasien ("Jedem Sudanes was aufs Gesäß!"), angelehnt an Postkarten, Plakate und Briefmarken aus der Ära Weltkrieg I bis II, lieferten die Seiten 28-31:


Nun zum aftermath des Rummels um den vormonatigen Titel. Dieser wurde nicht nur im Ausland wahr- und kritisch aufgenommen ...


... sondern sollte uns auch in Form unzähliger Hasskommentare und Leserbriefe um die Ohren fliegen, die einerseits unterhaltsam genug waren, um eine muntere Doppelseite zu füllen (S. 34f.), andererseits teils so beängstigend waren, dass wir Strafanzeigen gegen Unbekannt in Erwägung zogen. Dass Formel-1-Fans nicht die hellsten Kerzen auf der Torte sind, war mir klar gewesen, nicht jedoch, wie durch und durch boshaft und entmenscht sie sich zu gerieren imstande sind. Wer die sadistischsten der uns erreicht habenden Gewaltfantasien und Morddrohungen ("... Yugokiller vom Balkan anheuern") lesen möchte, möge das Heft nachbestellen. Hier nur zwei Beispiele, die auf diesem i.d.R. jugendfreien Blog gerade noch so reproduzierbar sind:


Hier kommt eine meiner persönlichen Top-3-Gaitzsch/Ziegelwagner-Produktionen. "Für Sie mit der Zeitmaschine aus der Zukunft geholt: Neue Fantasy von Martin Mosebach!" (S. 58f.) Anlass für diesen extrem verkopften Feuilleton-Quatsch war Martin Mosebachs Buch "Das Blutbuchenfest", das mit allerlei Vorschusslorbeeren bedacht worden war, bevor Andreas Platthaus in der FAZ auf die "groteske erzählerische Willkür oder Sorglosigkeit" aufmerksam machte: "Dreizehnmal werden in Mosebachs neuem Roman mobile Gespräche geführt", obwohl er in den Jahren 1990/91 spielt. (Das erstaunt mich übrigens bis heute: Traditionell ist das Blatt dem Frankfurter Literaten freundschaftlich verbunden. Mehr als einmal war ich Zeuge, wie der verschmitzte Katholik mit FAZ-Personal herzlich plauschte. Nun, ich schätze, das macht guten Journalismus aus: dass man über allfällige Kritikpunkte nicht aus Gewohnheit und/oder Kumpanei hinwegsieht.)
Einmal trugen Ziegelwagner und ich die von ausgedachten Zitaten aus der Literaturszene durchbrochenen Romanauszüge öffentlich vor und stießen weitgehend auf Unverständnis. Das Schreiben, vor allem das Parodieren legendärer Mosebachismen wie "Sopha", hatte uns jedenfalls eine Mordsgaudi beschert.


Eine große Ehre wurde mir in der Humorkritik zuteil: Ich durfte das Zitat des Monats liefern.


Ich habe schon wiederholt angemerkt, dass mir "meine" Rubrik "55ff" regelmäßig als Zweitverwertungsstätte diente. Auch diesmal konnte ich einen Witz platzieren, der davor jahrelang als Kugelschreiberskizze in meinem Notizbuch existiert hatte, hihi:


Weiteres Notierenswertes
- Von den in Moritz Hürtgens Homestory zur "Sex-Umfrage des Papstes" (s. Titanic 12/13 und 1/14) zu sehenden Schauspielenden (S. 22-24) sind selbst langjährigsten Abonnenten wahrscheinlich höchstens vier von fünf gesichtsbekannt. Den Herrn Pfarrer mimte ein grundsympathischer Wiener Spezi mit herrlichem österreichischen Namen.

- Apropos (s.o.) "liefern": David Schuh spürt auf S. 26f. einem bis heute nicht gelöschten sprachlichen Flächenbrand nach. "[...] Philipp Rösler, der nach seiner Wahl zum FDP-Vorsitzenden großspurig-blöde verspricht: 'Ab heute wird die FDP liefern' (SZ, 14.5.11). Doch Rösler gerät später in Lieferungsverzug, erhält Mahnbriefe sonder Zahl: 'Philipp Rösler muß jetzt liefern', schreibt die WAZ (4.1.13), 'Rösler muß jetzt liefern', variiert am selben Tag die Welt, und 'Rösler muß jetzt liefern', plappern die Grünen [...] gewohnt besinnungslos nach, was gerade an Deppensprech available ist."
- Etwas meines Wissens Einmaliges gibt es ab Seite 40 zu bestaunen: einen vier(!)seitigen Katz-und-Goldt-Comic. Einmalig war auch, dass wir, die Redaktion, uns nach Eingang der Urfassung ein alternatives, konsequenteres Ende wünschten. Das Gesuch wurde (mit Begründung) abschlägig beschieden, was selbstverständlich okay ist.
- "Ein Feiertag für unsere Moslems" (S. 44f.) ist eine meiner raren Kooperationen mit Mark-Stefan Tietze. Weil (inzwischen auch wieder vom Tisch!) die Türkische Gemeinde in Deutschland einen solchen Tag gefordert hatte, überlegten wir uns, welchen "von unseren alten abgelegten Feiertagen" wir für diese Leerstelle hergeben könnten: zum Beispiel Christi Himmelfahrt ("Könnten wir es ihnen schmackhaft machen, dabei riesige Teekannen auf Bollerwagen mitzunehmen, stünde einer Umwidmung in den 'Mustafatertag' nichts mehr im Weg.").
- Diese Ausgabe enthält die erste Folge der stets zum Glucksen anregenden Reihe "Gsellalileo"! "'Ameisenbisse tun weher als Löwenpisse, aber Löwenbisse tun weher als Ameisenpisse': Mit dieser Klarstellung beendete ein tansanischer Logiker jetzt eine jahrhundertealte Auseinandersetzung zwischen den Universitäten Oxford und Krefeld, die am Ende fast schon zur Glaubensfrage mutiert war. Nun versprachen beide, sich eine andere Streitfrage zu suchen, zum Beispiel was letztlich gefährlicher ist für junge Heringe, Orcas oder Orkane."
- Zum Schluss mein liebstes Detail aus der Egner-Vorderseite im Essay:


Schlussgedanke
- Ein Heft, das die Leserschaft mit viel Relevantem, ein bisschen Meta-Kram (Lauda!) und einigen recht harten Gags konfrontiert. Schulnote: 2.

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