Donnerstag, 29. Februar 2024

Schaltjahr-Fortsetzungsgeschichte (V)

Was bisher geschah:
Teil I (2008)
Teil II (2012)
Teil III (2016)
Teil IV (2020)

Fünfzigtausend Mann mochten es gewesen sein, einige hatten sogar die unvorstellbare Zahl von einhunderttausend in den Mund genommen. So oder so waren die Heerscharen der Goldenen Horde von Anfang an überlegen gewesen, das hatten alle gewusst, allein es auszusprechen hatten die einfachen Soldaten sich so wenig getraut wie den Großfürsten spöttisch einen Kleinkrieger zu heißen.
Olgierd lachte beim Gedanken an den Übermut des Litauers, was einen scharfen Schmerzensblitz hinter seine ohnehin unangenehm pochende halboffene Bauchwunde jagte. Das Blut lief ihm in einem feinen Rinnsal herab und erinnerte ihn an den harmonisch-kühnen Verlauf der Worskla. "In wenigen Monaten beginnt ein neues Jahrhundert, mein Freund", keuchte Olgierd in Richtung des knabenhaften Landsmannes, der wie durch ein Wunder völlig unversehrt geblieben war. "Den Wechsel würde ich allzu gerne erleben."
"Streng genommen beginnt das nächste Jahrhundert erst 1401, also in über einem Jahr", erklärte Andrzej mit erhobenem Zeigefinger und zwinkerte nach einer kurzen Pause schelmisch. Olgierd rang sich ein Lächeln ab. "Welche Narren behaupten das? Möge sie der Khan persönlich erschlagen!" Im Hintergrund ertönte das gepresste Keuchen eines verstümmelten Rosses. "Weißt du", hob der Jüngere an, "wer auch an einem Flussufer gestorben ist? Barbarossa, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Nicht im Kampf gegen die Seldschuken gefallen, sondern beim Baden krepiert, haha. Die schillerndsten Helden treten am ehrlosesten ab."
"Und doch", gab Olgierd zu bedenken, "raunen die Deutschen von seiner Wiederkehr. Oder bezweifeln gar, dass er überhaupt tot sei." Andrzej kannte die Sagen. Nickend ergänzte er: "Der Rotbärtige schläft nur, heißt es. Ein goldenes Zeitalter" (da war es wieder: golden) "bricht an, sobald er sich erhebt. Wenn die schwarzen Vögel nicht mehr kreisen, ist es soweit." Olgierd kniff die Augen zusammen, schaute in seine Lendengegend, als er sie wieder öffnete. Das Blut war getrocknet. "Wenn ich es in meine Heimat schaffe, werde ich eine neue Siedlung gründen. Und dort sollen gar keine Vögel fliegen. Kein Rabe, kein Falke, keine Goldammer möge sich niederlassen, und allfort herrsche Frieden und Wohlstand, mein Freund. Aber wenn sie je kreisen ... dann gnade uns Gott."

Nahezu fieberhaft kippte Marek den Inhalt einer Pappkiste, die er unter seinem Bett hervorgezogen hatte, über den Spielteppich in seinem Kinderzimmer. Dutzende Bücher und Magazine zum Thema Ornithologie kamen zum Vorschein, darunter der deutsche "Kosmos Vogelführer" sowie eine Neuauflage von "Birds of Brittania", geschrieben von Philip, dem Duke of Edinburgh und gegenwärtigen Prinzgemahl im Vereinigten Königreich. An etliche der Druckwerke konnte sich Marek kaum mehr erinnern, ein gewisses selbstangefertigtes Heft aber hoffte er zu finden. Und da war es zum Glück noch: eine gewöhnliche, grün eingeschlagene Kladde, in die Marek in seiner Vorschulzeit Fotografien und ausgeschnittene Tierbuchzeichnungen von Vögeln geklebt hatte. Er blätterte in Rekordgeschwindigkeit durch das kindliche Werk, bis er auf Seite 35 (die Seitenzahlen hatte er von seinem Vater mit einem Filzstift eintragen lassen) fündig wurde. Eine Elster. Die Elster. Marek atmete heftig ein und aus, hyperventilierte fast. Nachdem er ein paar Mal in einer paradoxen Mischung aus Triumph und Verzweiflung mit geballten Fäusten auf den Fußboden geklopft hatte, riss er die komplette Seite aus der Kladde und zerknüllte sie.
In diesem Moment betrat seine Mutter das Kinderzimmer. "Was machst du denn da?", sagte sie, wartete Mareks Antwort aber nicht ab. "Ich hatte gerade eine sehr interessante Begegnung. Weißt du, wen ich vor Herrn Komorowskis altem Plattenladen getroffen habe? Die Bürgermeisterin, Frau Sroka."

Keine Stunde war der Nonne geblieben, um die Aktion zu planen und die benötigten Werkzeuge zu besorgen. Doch Improvisation war genau ihr Ding, und ein Klapprad, eine Wäscheleine und etwas rote Farbe waren rasch besorgt. Ein Fläschchen Chloroform hatte sie sogar dabei gehabt (Wer würde schon den Kulturbeutel einer reisenden Nonne durchsuchen?), und ihren Habit hatte sie kurzerhand mit Erde und Dreck von der Straße besudelt, um den "Unfall" glaubwürdiger erscheinen zu lassen. "Hilfe, Hilfe", wimmerte sie nun in liegender Position. "Ich bin gestürzt, warum hilft mir denn niemand?"
Auf die Hilfsbereitschaft der Mehrheit ihrer Mitmenschen hatte sie ohnehin nicht gesetzt, aber heute waren nicht einmal Leute in der Innenstadt zu sehen. Waren alle ausgeflogen? "Ausgeflogen", das war wohl das passende Wort. In die schummrige, nicht eben einladende Seitengasse, in welcher die "Verunglückte" lauerte, verirrte sich an diesem Tage schon mal gar keine Seele. Erst nach einer Viertelstunde wurde eine Gestalt sichtbar. Ein Opfer.

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