Mittwoch, 22. August 2012

Der Storch und die Bisamratte

Eines Tages traf die Bisamratte den Storch. Der Storch ging gramgebeugt und machte insgesamt einen niedergeschlagenen Eindruck. "Warum machst du so ein langes Gesicht?", fragte die Bisamratte den Storch.
"Ach, weißt du", erwiderte der Storch, "mein Zuhause gefällt mir nicht. Mein Nest ist viel zu klein und viel zu weit oben gelegen. Ich bekomme Beklemmungen, wenn ich darin sitze, und ich muss ständig Angst haben, dass ich hinuntergeweht oder vom Blitz getroffen werde." -- "Warum hast du dir das Nest so gebaut, wie es ist?", wollte die Bisamratte wissen.
"Weil es die Gesellschaft von mir erwartet", antwortete der Storch. "Aber es ist nicht nur das Nest, das mir so zusetzt. Ich habe gerade einen Frosch gefressen. Dabei wird mir jedes Mal schlecht. Oft bleiben mir die Frösche im Hals stecken, so dass ich fast ersticke. Obendrein sind sie schwer zu fangen und schmecken nach Sumpf." -- "Warum frisst du dann noch Frösche?", wollte die Bisamratte wissen.
"Weil es die Gesellschaft von mir erwartet", antwortete der Storch. "Aber es sind nicht nur mein Nest und die Frösche, die mir zu schaffen machen. Wie du weißt, bringe ich den Menschen die Kinder. Das kostet mich eine Menge Kraft und Zeit. Ich sehe kaum noch meine eigene Familie, und vom vielen Kindertragen tun mir die Nackenmuskeln weh." -- "Warum bringst du dann den Menschen die Kinder?", wollte die Bisamratte wissen.
"Weil es die Gesellschaft von mir erwartet", antwortete der Storch.
"Lieber Storch", sprach da die Bisamratte, "du misst der Gesellschaft zu viel Bedeutung bei! Findest du nicht, es wäre einmal an der Zeit etwas zu tun, das die Gesellschaft nicht von dir erwartet?"
Darüber dachte der Storch gründlich nach. Dann stieß er der Bisamratte seinen Schnabel in die Kehle und trank ihr Blut und hackte immer und immer wieder auf sie ein. Ersterbend röchelte die Bisamratte: "So war das aber nicht gemeint ..."

Moral: Man sollte niemanden dazu ermutigen, aus seiner gesellschaftlich vorgeschriebenen Rolle auszubrechen.
Fazit: Eine äußerst bedenkliche Fabel. Gut geeignet als Schullektüre in totalitären Systemen.

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