Sonntag, 5. Januar 2020

Die spannende Welt der Semantik

Verweilen wir noch ein wenig im Themenfeld missverständliche Zeitangaben. Ein paar Stunden nachdem ich den Beitrag zu den Zwanzigerjahren geschrieben hatte, kam nämlich im Freundeskreis, ohne dass ich das Gespräch dahin gelenkt hätte, abermals die Frage auf, ob das laufende Jahrtausend denn nun am 1.1.2000 oder 2001 angefangen habe. Ein anwesender Rechtsanwalt wusste diesbezüglich zu berichten, dass damals die Neue Juristische Wochenschrift im Editorial eine scheinbar kloßbrühenklare Alternativ-Erklärung auftischte: Wenn Sie im Begriff sind, drei Weinkisten à zehn Flaschen zu trinken, dann ist die zweite Kiste selbstverständlich mit der zehnten Flasche aufgebraucht, und mit der Leerung der dritten beginnen Sie, sobald Sie die erste Flasche aus dieser herausnehmen. Grrr ...

Die Wurzel allen Übels liegt darin, dass es kein historisches Jahr 0 gegeben hat; die ersten Zehnerjahre unserer Zeitrechnung begannen mit dem Jahr 1, nicht mit 0. Leicht verkompliziert wird die Chose freilich durch die sog. astronomische Zählweise, welche dem Jahr 1 n. Chr. tatsächlich ein Jahr null vorausgehen lässt und diesem -1 und diesem -2 usw. Caesars Todesjahr beispielsweise ist nach astronomischer Zählung -43. Haben 43 und 44, genauer: |-43| und 44, hier also dieselbe Bedeutung? Zumindest haben sie dasselbe Referenzobjekt.

Dass gerade so etwas definitiv Festgelegtes wie Zahlen und Daten uneindeutig sein kann, empfinde ich, der ich Sprache eher naturwissenschaftlich als philosophisch betrachte
, als zutiefst beunruhigende Störung im System. Und das Beispiel mit den vorchristlichen Jahreszahlen ist kein Einzelfall. In bestimmten Regionen des deutschen Sprachraums, auch da, wo ich aufgewachsen bin, hört man (vor allem ältere) Menschen von "heute in acht Tagen" sprechen, wenn sie "in einer Woche", i.e. in sieben Tagen meinen. Hier "bedeutet" 7 somit dasselbe wie 8. Auch an dieser Formulierung sind die alten Römer schuld, denn mangels des Konzepts null versah man den Tag, an dem man sich befand, stets mit dem Wert 1, wenn man auf Tage in der Zukunft verwies. (Eine schöne Darstellung der Problematik gibt es auf der Seite fichtelgebirge-oberfranken.de)

Zum Glück brachten die Inder die Null ins Spiel. Apropos Indien: Im Hindi gibt es eigene Wörtchen für Brüche wie "eineinhalb" (ḍeṛh) und "zweieinhalb" (ḍhāī), und diese werden auch bei Zeitangaben benutzt, man sagt z.B. "eineinhalb Uhr" für "1 Uhr 30", so wie man nicht "zweitausendfünfhundert", sondern wörtlich "zweieinhalb tausend" (ḍhāī lākh) für 2500 sagt. (Es existiert übrigens extra für 10 Millionen ein kompaktes Zahlwort: karoṛ.) In diesem Zusammenhang fällt mir auch die Sitte im britischen Englisch ein, half past two (2 Uhr 30 bzw. 14 Uhr 30) zu half two zu verkürzen. Auf deutsch eingestellte Gehirne könnten half two als "halb zwei" = 1 Uhr 30 bzw. 13 Uhr 30 interpretieren. In dieser Phrase bedeutet "zwei" also "drei". Wer soll da bitte nicht durchdrehen?

Noch irrer wird es, wenn Wörter ihr eigenes Gegenteil meinen. Ein Klassiker des Deutschen ist das Verb anhalten, aber bleiben wir beim (britischen) Englisch: Einmal unterhielt ich mich mit ein paar etwa gleichaltrigen Engländern und Engländerinnen, und gleich zwei von denen erinnerten sich daran, in der Schule eine hochbetagte Lehrerin gehabt zu haben, die ihre Zöglinge mit dem Ruf "Sit!" zum Aufstehen aufforderte. Noch einmal kurz zum Hindi zurückgekehrt: Das Adverb kal kann sowohl mit "morgen" als auch mit "gestern" übersetzt werden, die konkrete Bedeutung lässt sich aber in der Regel aus dem Satzkontext (Zeitform des Verbs) erschließen. Beenden möchte ich diesen Diskurs mit einem Zitat aus Folge 2 von Michael Ziegelwagners "Natur – Der Kanon":

"Allerdings bezeichnen auch die Wörter 'genervt' / 'entnervt' trotz ihrer offenkundigen Polarität etwas Ähnliches, wie auch 'belohnen' / 'entlohnen', und da beschwert sich auch niemand. Hufeisentheorie der Sprache? Vexierbild Buchstabensalat? Die Apparate, von denen man seine U-Bahn-Fahrkarte stempeln lässt, tragen in Wien den deutschsprachigen Hinweis 'Entwerter', auf englisch: 'Ticket Validator'; je nach Muttersprache wird man hier einmal zum Wertlosmachen, einmal zum Gültigmachen angeleitet". (Titanic 12/2019)

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