Mittwoch, 9. Dezember 2020

Alles Tolle aus der Knolle

Der menschliche Einfallsreichtum und Erfindergeist in Sachen Lebensmittelgewinnung erstaunt immer wieder. Wie genial ist es beispielsweise, einen gewöhnlichen Korbblütler aus dem Erdreich zu heben, damit man am Ende ein aromatisches Heißgetränk erhält? Die Rede ist von Zichorienkaffee. Ich selbst trinke gerne mal zum Nachmittag eine Tasse Caro-Kaffee, wenn ich bereits genug Filterkaffee intus habe. Das Wort Zichorien war mir jedoch bis vor wenigen Jahren nicht geläufig.

Je nach Quelle seit dem Mittelalter, spätestens aber seit dem 17. Jahrhundert röstet und mahlt man in Europa die Wurzeln der Wegwarte, einer uralten Kulturpflanze (altgriechisch zichṓrion), um das Pulver mit kochendem Wasser aufzugießen oder echtem Kaffeepulver zuzusetzen. In Zeiten der Knappheit hat sich Zichorienkaffee, neben Getreide-, Malz- und Eichelkaffee, als Alternative zu dem koffeinhaltigen Bohnentrunk etabliert, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte sich die kommerzielle Großproduktion durch. Kurios ist, dass die Blattrosette, also das, was der Zichorienwurzel oben raus wächst, erst viel später als genießbar erkannt wurde bzw. überhaupt erst entdeckt wurde: Die Triebe sind möglicherweise nur ein "Abfallprodukt" des Wurzelanbaus.

Als Kind hat es mich immer gegraust, wenn der gallebittere Chicorée auf den Tisch kam. Ganz recht: Diesen meinte ich soeben mit jener Blattrosette, und wer einen nicht nur etymologischen Zusammenhang zwischen Chicorée und Zichorien vermutet hat, lag richtig. Aber so einfach ist es nicht! Während der lesenswerte Beitrag des "Kaffi-Schopp"-Blogs insinuiert, es handele sich um zwei verschiedene Arten, nämlich Cichorium intybus (Zichorie) und Cichorium endivia (Chicorée), klärt uns Wikipedia auf, dass die Salatblätter und die getränkebasis-taugliche Wurzel aus ein und demselben Körper wachsen. Widersprüchlich dazu (?) stellt der Artikel zur Gemeinen Wegwarte klar, dass diese Cichorium intybus heißt und ihrerseits mehrere Unterarten hat. Von der Subspezies Cichorium intybus subsp. intybus gibt es nun wiederum fünf kultivierte Formen. Der sog. Sativum-Gruppe gehört die "Kaffeepflanze" an, weswegen deren wissenschaftlicher Name Cichorium intybus var. sativum DC. lautet. Der Chicorée dagegen reiht sich in die Foliosum-Gruppe ein und heißt demzufolge Cichorium intybus var. foliosum. Das ist verwirrenderweise auch die Bezeichnung für den Radicchio (der von handelsüblichem Chicorée durchaus mit einem Blick zu unterscheiden ist!), obwohl der Wegwarten-Artikel eine eigene "Radicchio-Gruppe" anführt und zudem behauptet, die "Salat-Gruppe [...] enthält ebenfalls Radicchio-Sorten". Das o.g. Blog wirft indes die Varietät Radicchio munter mit der Wegwarten-Art Endivie (Chicorium endivia) in eine Schüssel, wobei man fairerweise auf die französische Sprache hinweisen muss, welche zum Chaos beiträgt, indem sie die Endivie chicorée und den Chicorée endive nennt.

Bevor ich mich jetzt auch noch in der Liste der Endivien-Sorten verliere (Frisée und Eskariol sind zwei von ihnen), zähle ich lieber wahllos ein paar schöne Trivialnamen der Wegwarte auf: Cikary (Eifel), Hindleufte/Hundsläufte (Schlesien), Verfluchte Jungfer (Ostpreußen), Krebskraut, Mode (Schwaben), Schweinbrust, Sonnendrath/Sonnenwedel (Thüringen), Tarantschwanz, Vogelleuchte, Warzkraut, Weglug (Braunschweig, Schweiz), Würza (St. Gallen), Zuckerei (Westfalen). Wie heißt sie bei euch?

PS: Ich bitte um Entschuldigung wegen der irreführenden Überschrift; es ging ja nicht um Knollen, sondern um Wurzeln. Ich hätte freilich "Tolle Plörre aus der Möhre" schreiben können, denn tatsächlich wurden auch schon Mohrrüben als Kaffee-Ersatz-Grundlage heran- oder besser: herausgezogen.

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