Mittwoch, 21. Dezember 2022

TITANIC vor zehn Jahren: 1/2013

Auf die Revision dieser Ausgabe habe ich mich schon seit geraumer Zeit gefreut. Nicht nur findet sich darin der ein oder andere Beitrag, der sich Klassiker nennen darf, auch fällt schon mit Blick auf die U1 eine Besonderheit auf:


Zum bis dato letzten Mal lag Titanic ein Sonderheft bei, nämlich eine Sammlung von "Powersätzen". Die gleichnamige Online-Rubrik erfreute sich Ende 2012 großer Beliebtheit, und die Kuh musste gemolken werden, bevor sie zum toten Pferd wurde. Auf 35 Seiten haben die Redaktion und etliche freie Autorinnen und Autoren Listen für jede Gelegenheit zusammengetragen; von mir stammen die Powersätze für den Drogendeal, für die Demenz und fürs Jenseits. Ich habe das Gimmick selbstverständlich kleben lassen, so dass das Frontcover teils verdeckt ist. Wer sich das Heft bestellt, kann es ja abprokeln. Hach ja, einmal mehr wünsche ich mir die Zeiten zurück, in denen ein "Sodomie-Gesetz" das deutsche Debattenthema der Stunde darstellte. (Was der konkrete Anlass für das Gesetz gewesen war, traue ich mich nicht zu googeln.)
Auf der Rückseite übrigens: ein netter Sowa-Cartoon.

Weitere längst in Vergessenheit geratene Punkte der Nachrichtenlage entdeckt man beim Durchblättern: Lobbyismus im Pharmaziewesen (Gesundheitsminister war damals – na, wer weiß es noch? – Daniel Bahr), die CDU "auf der Suche nach dem urbanen Lebensgefühl" (Fotoroman S. 14-17), Geisterfahrer, Seltene Erden in Leipzig, der unaufhaltsame Aufstieg Katrin Göring-Eckardts, und Xavier Naidoo hatte anscheinend auch wieder irgendwas gesagt. Ein ziemlicher Downer, der freilich satirische Auseinandersetzung nicht unmöglich, sondern im Gegenteil notwendig machte, war der Großbrand in einer Textilfabrik in Bangladesch, in der auch Kleidung für C&A produziert wurde. Mir kam dazu die Idee, dass wir eine Vorschau auf den kommenden C&A-Katalog drucken sollten, und so steckten wir ein paar Redakteurskinder in versengte und angekokelte Sweatshop-Klamotten und setzten sie als Fashion-Models in Szene.


Recht stolz bin ich auf den Titel von "55ff", wobei es natürlich zuvörderst Martina Werners brillanter Graphik-Zauberei zu verdanken ist, dass man die süß-verstörenden Promi-Gesichter nie mehr vergisst, hat man sie auch nur für eine Millisekunde angeblickt.


Im Juni 2017 hatten ein paar Kollegen und ich die Gelegenheit, an einer geführten Tour durch den Commerzbank-Tower teilzunehmen, welcher nicht nur der höchste Wolkenkratzer Frankfurts, sondern der gesamten EU ist. Dabei wurden uns auch die allzu symbolisch-symptomatischen Vorstands-Toiletten in der obersten Etage gezeigt. Völlig vergessen hatte ich, dass wir jene Pissoirs schon einmal für eine Anzeigen-Parodie verwendet hatten. Ob es sich bei dieser WC-Aufnahme um ein Agenturfoto oder eine Lesereinsendung handelt, weiß ich nicht.


Weiteres Notierenswertes
- Die Ausgabe enthält Stefan Gärtners Essay "Wer Juden haßt, bestimme ich" über Jakob Augsteins Antisemitismus. Dieser Aufsatz holte seinerzeit erfreulicher- wie berechtigterweise viel Aufmerksamkeit und Lob ein und gilt bis heute als, s.o., Klassiker.
- Kultstatus erzielte außerdem Hans Zipperts Oberursel-Bericht "Der Revierkennzeichner", eine Geschichte, die noch Kopfschütteln auslöst, wenn man sie zum dritten Mal auf einer Lesung vorgetragen bekommt.
- Synchronizität, Serialität oder banaler Zufall? Während ich diese Zeilen tippe, macht ein Portrait (ich glaube, vom Spiegel) über Ex-Minister Peter Altmaier von sich reden. Und jener anno 2012 als Umweltminister höchst aktive Vollblutpolitiker bekam im vorliegenden Heft eine Homestory spendiert. Dieser fiktive Hausbesuch war einer der wenigen während meiner Amtszeit erschienenen Artikel, mit denen ich ganz und gar nicht einverstanden war, was ich auch offen kundgetan habe. Homosexualität insinuieren, weil der Mann über sein Beziehungsleben den Mantel des Schweigens zu legen pflegt? Das erschien mir ebenso billig und unverdient wie die circa einhundert Dickenwitze. Schwamm drüber.
- Zauberhaft ist das Gruppenbild auf S. 48f., auf der über einigen Gedanken zur "Zukunft des Journalismus" die gesamte Redaktions-Bagage versammelt ist, inkl. Satz- und Fotografie-Springer Stephan Nau, der hierfür in die Rolle unseres mystischen Verlegers geschlüpft ist.
- Noch einmal Synchronizität & Co.: Als "letzter Royal" (S. 66), i.e. als Nachfolger von Queen Elizabeth II., werden anlässlich "der Kate-Befruchtung" verschiedene potenzielle Thronerben ins Spiel gebracht, als Erster natürlich Charles III. ("Wenn die Queen im März 2019 entschläft, wird Charles endlich, endlich Monarch. Der 'Minutenkönig' kann sein Glück kaum fassen – wie auch den letalen Schock, als sich die Mutter von ihrem todesähnlichen Mittagsschlaf wieder aufrappelt und nach Tee brüllt.").

Schlussgedanke
Der neue Jahrgang beginnt so famos, wie der alte aufgehört hat.

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