Montag, 19. Dezember 2022

Zauberhafte altdeutsche Rechtssprache (II)

Folge I

Zwangsal. Im Grimmschen Wörterbuch "als variante für quelung" aufgeführt. Dort wie auch im Wiktionary finden wir den Vermerk, dass das Wort "nach dem 16. Jahrhundert immer seltener, heute vollkommen erloschen" ist, was übrigens auch auf den folgenden Eintrag zutrifft. Mittelhochdeutsch twancsal, bedeutet es wohl "Zwang, Gewalt, Einschränkung", aber was meint es im engeren, i.e. juristischen Sinne? Da es in einer Quelle aus dem Jahr 1788* in der Trias "Zwangsal, Satzung oder Steuer" auftaucht, nehme ich an, dass an eine Art Zwangsvollstreckung, eine amtlich verordnete Einschränkung gedacht werden muss.

* Der Titel soll hier in seiner ganzen Schönheit wiedergegeben werden: "
Antiquitatum Nordgaviensium Codex Diplomaticus oder Probationum, worinnen nicht allein einige zur Erläuterung des alten Nordgaus dienende, sondern auch vornemlich wichtige, das Hochfürstliche Burggrafthum Nürnberg, und die von demselben absproßende beyde in diesem Landes-Bezirck situirte Hochfürstliche Häuser, Brandenburg Anspach und Bayreuth betreffende hohe Vorrechte, Freyheiten, Begnadigungen, Concessiones u. dgl. m. vom VIII. Seculo anfangend, und bis auf gegenwärtige Zeit sich extendirende, mithin sich dann auf Neun und ein halbes Seculum erstreckende Urkunden und Zeugniße enthalten, die an Orten, wo es nöthig, mit Historisch-Genealogisch-Chronologisch-Geographisch- und Critischen Anmerckungen erkläret, Auch einem dreyfachen Register, zum bequemen Gebrauch versehen. Vierter Theil" von Johann Heinrich von Falckenstein, dem "Hoch-Fürstlich-Brandenburgisch-Anspachischen Hof-Rath und der Königlich-Preußischen Societät der Wissenschaften Mitglied".

Übergenoß, Ungenoß. Dieses Begriffspaar erscheint im Abschnitt über die Stände. Den "Übergenoß" finden wir bei Tristan und Isolde, wo es über Tristan heißt, er sei "alles Todes Übergenoß". Kann man das so interpretieren, dass er über dem Tode steht, ihm "über ist" (in der Bedeutung wie in dem Zitat aus "Kir Royal", das mir geläufig ist, obwohl ich diese vermeintliche Kultserie nie gesehen habe: "Isch bin dir einfach über")? Das Gegenstück zum Übergenossen scheint der bei Mitteis nicht erwähnte Untergenoß/Untergenosse zu sein.
"[D]as Mittelalter kannte eine Reihe von rechtlichen Beziehungen, in die man nur mit Standesgenossen oder Tieferstehenden (Untergenossen) treten konnte, während man von den Übergenossen als unebenbürtig ausgeschlossen wurde. [...] In Kriminalsachen brauchte sich niemand einen Untergenossen als Richter oder Urteiler, Zeugen oder Eideshelfer gefallen zu lassen. Um ein Urteil schelten zu können, mußte man Genosse oder Übergenosse der Urteilsfinder sein. [... N]ur einen Ebenbürtigen brauchte man sich als Fürsprecher des Prozeßgegners gefallen zu lassen." (Richard Schröder, Lehrbuch der Deutschen Rechtsgeschichte, 1889)
Aber war ein Untergenosse mit einem Ungenossen identisch? Das finden wir zumindest in Claudius von Schwerins Grundzügen des deutschen Privatrechts von 1928 bestätigt: Es gab, kurzum, im Mittelalter die "Vorstellung, daß ein Mensch besser geboren als ein anderer, dieser daher sein übergenoz und er dessen ungenoz ist" [im Original sind die Termini in Nicht-Fraktur gesetzt]. "Ihre Wirkung ist die, daß gewisse Rechtsbeziehungen zwischen einem Menschen und seinem Ungenossen und demgemäß auch seinem Übergenossen unmöglich sind oder doch andere Folgen haben als zwischen Genossen. Im einzelnen ist die Ehe mit dem Ungenossen oder der Ungenossin eine u n g l e i c h e Ehe (Mißheirat, disparagium)."
Vor diesem Hintergrund könnte man mal überlegen, ob die Anrede "Genosse/Genossin" im Sozialismus, wo das Klassensystem ja überwunden sein soll, nicht fehl am Platze ist. Denn Menschen, die nicht als Genossen und Genossinnen akzeptiert werden, stünden dann ja wiederum über oder unter anderen.

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