Donnerstag, 28. März 2024

TITANIC vor zehn Jahren: 4/2014

Die Duplizität der Ereignisse, sie grenzt ans Unheimliche. Vor ein paar Tagen wurde der russische Präsident im Amt bestätigt und ist ohnehin wegen seines Krieges gegen die Ukraine das neben Trump am stärksten die Nachrichten dominierende (Ex-)Staatsoberhaupt; vor zehn Jahren wiederum schaute alle Welt im Zuge des Vorspiels davon auf Putin, auch Titanic:


Mehrmals im Heft geht es um die Krim-Besetzung und ihre Folgen wie die daraus resultierende Furcht vor Eskalation bis hin zum Weltkrieg. Rürups Startcartoon (S. 3) greift das Thema Gasboykott auf, Gärtners Essay (S. 18/21) ordnet dies und das ein, die neue Folge von "Miss Merkle: Macht ist ihr Hobby" (S. 33) heißt "Mord im Krim-Expreß", Michael Ziegelwagner und ich zeigen auf S. 47 den Stammbaum der Klitschkos ("Die unbekannten Klitschko-Brüder", darunter "Kitsch, Klitsch und Klatsch"), Ernst Kahl kommentiert in einem ungewohnt tagespolitischen Gemälde den damaligen Schalke-Sponsor Gazprom.

Und für den Aufmacher (S. 12-17) reisten wir nach – Baden-Baden: "Schließlich wohnen und entspannen sich hier seit Jahrhunderten Russen, konsumieren feinste Juwelen und Maultäschle mit Kaviar und wandeln auf den Spuren Fjodor Dostojewskis, der beim nichtrussischen Roulette im berühmten Kasino so viele Rubel ließ, daß er zur Refinanzierung den 'Spieler' schreiben mußte."


Ich erinnere mich gern an diese Aktion zurück, vor allem an den Umstand, dass uns die Einheimischen durchweg unsere mit albernen Klischee-Kostümen vorgegaukelte Identität ("Interrussischer Warn-, Auslands- und Nachrichtendienst", kurz I.W.A.N.) abnahm!

Als wäre dieser Ausflug nicht schon aufwendig genug gewesen, fabrizierte das Team Tietze/Wolff/Hintner als Zweit-Aufmacher einen nicht weniger als sieben Seiten fassenden Fotoroman, wie es ihn meines Wissens zuvor noch nicht gegeben hatte und auch danach nie wieder geben sollte: Die Nacherzählung der Affäre um einen SPD-Politiker erfolgte mit ... Lego:


Für die Doppelseite "Mampftrend Mischfutter" (Rürup/Tietze) in der Heftmitte war noch mehr Bastelei nötig. Nach 13 Jahren in der Redaktion weiß ich nicht mehr, wie oft wir für irgendwelche Food-Artikel Quatsch mit Lebensmitteln gemacht haben, aber die Hybrid-Produkte von "Cevapciccio" bis "Müsli di Mare" schossen wirklich den Vogel ab.


Holy macaroni!, auch in den folgenden Beitrag floss eine Menge Zeit und Energie. Moritz Hürtgen und ich hatten, inspiriert vom jüngsten Ableger der "Paranormal Activity"-Reihe, den Einfall, eine Nacht in den Redaktionsräumen (inkl. Keller!) zu verbringen, uns bei abgeschaltetem Licht Spuk-Ereignisse herbei zu imaginieren und daraus ein Horror-Logbuch mit stimmungsvollen Found-Footage-Bildern zu spinnen. Beim Schießen der Fotos überkam uns tatsächlich ein wenig Gänsehaut, im Großen und Ganzen überwog aber die Gaudi. Jetzt kann ich's ja verraten: Wir haben nicht wirklich die ganze Nacht durchgehalten. Laut Google-Zeitachse habe ich die Redaktion um 2 Uhr 20 verlassen. (Dass ich zehn Jahre später noch meine Arbeitszeiten bis auf die Minute genau rekonstruieren kann, ist der wahre Grusel.)


Weiteres Notierenswertes
- Dass Kollege Hürtgen die Heiligsprechung von Papst Johannes Paul II. protokolliert hat (S. 54), hatte ich in meiner Notiz zu jenem Bizarro-Ereignis zu erwähnen vergessen. Lektüre bitte nachholen!
- Gerhard Henschel in seinem Hausbesuch bei Bushido (S. 58f.): "Schon erstaunlich, daß es dafür [für die nicht zitierfähigen Lyrics; T.G.] einen Bambi gegeben hat. Aber auch wieder folgerichtig, wenn man bedenkt, daß das Verlagshaus Burda als Schirmherr der Bambi-Verleihungen seinerseits Leichenfledderer beschäftigt, die für das Lifestyle-Magazin Bunte die Totenflecken am Mund eines im Jagdschloß des Prinzen Ernst August von Hannover verstorbenen Prominenten nachgezählt haben."
- Weitere Nervgestalten (von denen man heute gottlob nur noch wenig mitkriegt, z.T. wg. tot) in dieser Ausgabe: Thilo Sarrazin (Aboanzeige, U1), Sibylle Lewitscharoff ("Der letzte Halbmensch", Leo Fischer, S. 66), Jasper von Altenbockum ("Jasper me softly", Heiko Werning, S. 24f.)
- Sehr hübsch auch M. Ziegelwagners Abrechnung mit den ausgenudeltsten Kommerzklassik-Melodien ("Unsterbliche Zombie-Klänge", S. 42f.): "Laßt den Wohltemperierten Fahrstuhl abstürzen! Nie wieder 'La donna è mobile'! Nie wieder die 'Kleine Nachtmusik'! [...] Schlimmer und ubiquitärer ist nur noch der Pizza-Jingle von Giuseppe Verdi."

Schlussgedanke
Eine Wundertüte erster Kajüte! Es ist diese Formenvielfalt, die meine Freude am re-visiting der Ära Wolff besonders hebt.

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