Montag, 30. Juli 2012

Außergewöhnliche Printprodukte: Der Tintling

Man kann der Jugend von heute vieles vorwerfen. Zum Beispiel, dass sie sich nicht mehr für Pilze interessiert. Pilzesammeln verbindet man unweigerlich mit den älteren Generationen (typischer Satz: "Wir geh'n in die Pilze."), die jungen Leute lachen höchstens über die Phallusförmigkeit mancher Pilze. Das schwindende Interesse an der Mykologie ist bedauerlich, denn gerade in Mitteleuropa begegnet uns eine faszinierende Vielfalt. Viele Pilze sind essbar und bieten eine überraschend breite Palette an Geschmäckern und Aromen, andere bescheren herrliche Drogenräusche. Faszinierend ist zudem, dass sich das Wissen um diese Lebewesen, die weder Pflanze noch Tier sind, sondern wie z.B. Algen und Brötchen ein eigenes Reich bilden, stetig vermehrt. In einem Pilzbuch von 1965 ist etwa zu lesen: "Bisher hielt man den Kahlen Krempling für eßbar nach genügend langer Zubereitungsdauer; neuerdings wurde jedoch festgestellt, daß er, obwohl sorgfältig zubereitet, nach wiederholtem Genuß ernste Gesundheitsstörungen verursachen kann." Das muss man sich mal vorstellen: Da ist eine gewiss beängstigend hohe Dunkelziffer von Menschen krank geworden, weil im Pilzbestimmungsbuch falsche Angaben standen!

Wer also klärt uns auf über die neuen Trends und Erkenntnisse in der Pilzologie? Nun, in jeder größeren Stadt gibt es Pilzberatungsstellen. Ansonsten hilft Der Tintling, eine zweimonatliche Fachzeitschrift im A5-Format, benannt nach der Gruppe Coprinus sensu lato.
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Daran, dass die Aprilausgabe frech mit "April April" ausgewiesen ist, sieht man schon, dass die Pilzling-Redaktion dem ein oder anderen Jokus nicht abgeneigt ist und ihre Zunft nicht immer bierernst nimmt. Sicher, auch hochfachliche Abhandlungen und taxonomische Auflistungen finden sich:


Dazwischen aber immer kleine Albernheiten, etwa wenn es um Genießbarkeitshinweise geht:


Im Tintling geht es oft sehr persönlich zu. Fundberichte kommen als Reiseprosa daher, Leser senden ihre schönsten pilzbetreffenden Erlebnisse ein. So erinnert sich etwa ein Dr. Volkbert Kell aus Rostock an sein "marinbiologisches Praktikum im Mai 1979 am Gestade des Schwarzen Meeres", bei dem u.a. dies passierte: "Schließlich schlich sich ein schon leicht angetrunkener Student auf allen Vieren von hinten an mich heran und teilte mir im Flüsterton mit, dass er mit mir eine vertrauliche Angelegenheit zu besprechen habe. [...] Sein Nachbar, mit dem er seit langem in Fehde lag, hatte einen großen Dobermann, von dem sich unser Held [...] bedroht fühle. Seine Frage: 'Mit welcher Giftpilzmixtur lässt sich solch ein 50 Kilogramm schweres Tier am schnellsten und unauffälligsten beseitigen?' Ich erläuterte ihm die Vor- und Nachteile unserer heimischen Giftpilze für die von ihm vorgesehene Verwendung und riet ihm dann, doch lieber eine massive Keule zu nehmen, sich von hinten an den Hund heranzurobben, so wie es die militärische Ausbildung weltweit vermittelt, und ihm mit gezieltem Schlag die Hypophyse zu zertrümmern." Die Story wird noch wundersamer, denn im Laufe des Abends erzählten immer mehr Studentinnen und Studenten von farblichen Veränderungen ihrer Ausscheidungen und wollten wissen, ob dies an den verzehrten Fundpilzen gelegen haben könnte. "Diese mir mitgeteilten Geschehnisse machten nun auch mich neugierig. Mein Toilettengang bestätigte die gemachten Schilderungen: Braunroter Stuhl, rotgrünger Urin."

Ja, Der Tintling wagt sich auch in unappetitliche Gefilde:


Für den Laien sind Artikel über pustelförmige Parasiten und zerfließende Gallerttränen nicht nur amüsant. Man lernt dabei auch so einiges, und seien es nur neue Wörter wie "grobwarzig", "Blattgallen" oder "Verrottungsimpuls" (ein Substantiv, das bis dato keinen einzigen Googletreffer hervorbringt).

Sehr hübsch auch: das April-Feature "Pilze als Wild-Äsung" ("Bisher wurde der Wildäsung in der Forschung keine wesentliche Aufmerksamkeit geschenkt") oder das große Helmling-Profil ("die überstehende Huthaut und der ranzige Geruch sind weitere gute Merkmale"). In der Tradition des "Playmates des Monats" gibt es einen "Pilz des Monats", außerdem zeigen die ausklappbaren Umschlagseiten ausgewählte Pilzarten, z.B. in Heft 3/2012 die Rettichgeruch-Koralle: "Fleisch im Strunk schmutzigweiß und besonders bei alten Fruchtkörpern oft wässrig marmoriert, knorpelig-elastisch, in den Ästen weißlich und gelatinös".


Nach der Lektüre einer Tintling-Ausgabe weiß man: Die Sprache der Mykologie ist die kraftvollste, körperlichste, bisweilen abstoßendste und sexuell aufgeladenste aller Wissenschaftssprachen. "Die Fruchtkörper werden selten höher als 4 mm und erscheinen weniger hirnartig, sondern mehr flach und wellig bis radialrunzelig. Drüsenwärzchen auf der Oberfläche fehlen oder sind nur spärlich vorhanden." -- "Außer den Drüslingen zählen auch die Dornige Wachskruste, der Zitterzahn und der Rötliche Gallerttrichter zur Ohrlappenpilzverwandtschaft." -- "Sporen feinwarzig-gratig-runzelig, zitronenförmig bis lanzettlich ausspitzend" -- "[D]ie Spermogonien selbst sind im Gewebe der Wirtspflanze eingesenkt und ragen mit feinsten Härchen, die bei Reife ein Sekrettröpfchen absondern, aus der Epidermis (Außenhaut) der befallenen Stellen der Wirtspflanze heraus." -- "Oberfläche jung bläulich-weiß, bald isabell bis hell graubeige nachdunkelnd, trocken, glatt und seidig, nur bei feuchtem Wetter etwas schmierig, bis zur Hälfte abziehbar." -- "Die kalkholde und wärmeliebende Art soll nach Literatur am liebsten im Nadelwald wachsen, fruktizierte aber hier auf einer Schlackenhalde."

Wenn man da nicht Heißhunger auf eine deftige Pilzpfanne kriegt!

PS: Die Tintling-Redaktion hat die zwei mir vorliegenden Hefte an das Büro der Titanic geschickt, mit der Bitte, sich des Themas Pilze anzunehmen, weil dieses viel zu selten in Titanic behandelt wird - was stimmt. Dass ich den Tintling ersatzweise an dieser Stelle würdige, ist dem Einsender, wenn nicht bekannt, so doch wenigstens (hoffentlich) recht.

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