Nachdem ich vor ein paar Jahren Harald Jähners glänzende Nachkriegsschilderungen "Wolfszeit" verschlungen habe, lese ich nun endlich sein 2022 erschienenes Portrait "Höhenrausch: Das kurze Leben zwischen den Kriegen". In dem Kapitel "'Schicksale hinter Schreibmaschinen' – Die Trägerschicht der Neuen Zeit" geht es am Rande auch um ein "Bürodeutsch", das in der Weimarer Republik zum Teil eigentümliche Blüten trieb:
In Martin Kessels Büroroman "Herrn Brechers Fiasko" grassiert eine alberne Bürosprache, mit der die Sekretärinnen der Langeweile des Jobs und den Zumutungen ihrer Chefs trotzen. Jeder Satz wird dabei mit einem affektierten "ü" beendet. "Man sagte nicht mehr: 'Haben Sie einen Bleistift?' – sondern man sagte: 'awa en bleie, ü?'. Oder man sagte zu einer Sache, die eilig war: 'ette, ette, ette, ü?'" [...] Mit den Frauen hatte sich die Büro- und Verwaltungssprache geändert. Ursächlich dafür aber waren nicht sie, sondern die Schreibmaschine. Erst mit ihr zog die Umgangssprache in die Buchhaltung ein und löste die alten Fachbegriffe und Kürzel ab, mit denen die klassischen Buchhalter handschriftlich für Kürze und Exaktheit gesorgt hatten. Denn die Schreibmaschine eröffnete den Kaufleuten die Möglichkeit, den Schreibkram zu delegieren, und machte ihre alten, professionellen Codes obsolet. "Mit dem Eindringen der weiblichen Schreibkraft in das Büro, mit dem Sinken des kaufmännischen Niveaus verschwand das 'Rottwelsch des Kaufmanns' allmählich", stellte der Sozialwissenschaftler Theo Pirker fest. Allerdings ging der empfundene Niveauverlust nicht auf das Konto der Frauen, sondern auf das der oft fahrig diktierenden Chefs: "Schritt für Schritt verschwanden die Abkürzungen. Unglücklicherweise erhielt sich die blühende und leere Phrase. (...) Geschäftsleute, die nun der Mühe enthoben waren, ihren Brief selbst zu schreiben, und die nun nicht mehr Gefahr liefen, Tintenkleckse zu machen, verfielen in eine Reihe schlechter Gewohnheiten und hauptsächlich in die, einen Satz zu beginnen, ohne zu wissen, wie er enden wird."
So weit, so bemerkenswert. Nichts damit zu tun habend, aber nicht minder bemerkenswert: Einen Absatz weiter begegnete mir ein Unternehmen, das in einer meiner vorangegangenen Lektüren eine Rolle spielte: Westinghouse!
Die Organisationsbranche wuchs genauso sprunghaft wie die Papierberge in den Betrieben und die Angestelltenheere, die zu ihrer Anfertigung und Bändigung nötig waren. Als in den USA 1948 die Firma Westinghouse ihr Ablagesystem rationalisierte, schaffte sie insgesamt vierhundertzwanzig Eisenbahnwagen voller Akten aus ihren Gebäuden, in der sicheren Annahme, dass niemand mehr etwas davon würde lesen wollen, schon allein, weil die Hoffnung fehlte, in den Unmengen von Informationen das Gesuchte zu finden.
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